Rocking Horse Road (German Edition)
Territorium.
Soweit wir wußten, hatte niemand ein Baby als vermißt gemeldet. »Was, glaubt ihr, hat Marks Mutter da wohl gesehen?« fragte Pete Marshall in die Runde, als wir uns das nächste Mal trafen. »Was sieht aus wie ein Baby, ist aber keins?«
Wir standen in Tugs Zimmer und schüttelten die Köpfe. Das war ein Rätsel, das wir nicht lösen konnten.
Tug hatte berichtet, daß in der Garage der Ashers fast immer bis zwei oder drei Uhr morgens Licht brannte. Natürlich hatte er sich eines Nachts herangeschlichen, aber das einzige Fenster war sorgfältig mit Brettern vernagelt, die sich überlappten, so daß es keine Zwischenräume gab, durch die er hätte spähen können. Aber hören konnte er. Er stand in der warmen Nachtluft und lauschte. Es klang, als würde Mr. Asher irgend etwas schreinern. Er hörte Hämmern und Sägen, unterbrochen von langen Pausen, die das Brandungsrauschen füllte. Wenn Mr. Asher da etwas baute, so hatte Tug keinen Schimmer, was es sein könnte.
Aber nicht allein Lucys Vater verhielt sich merkwürdig. Ab Anfang Februar blieb Jases Vater zu Hause, offiziell war er krankgeschrieben. Jase redete nicht gern darüber, aber uns allen war klar, daß Bill Harbidge sich nur noch selten von seinem Platz vor dem Fernseher wegbewegte. Er machte beim Frühstück sein erstes Bier auf und ging praktisch gar nicht mehr aus dem Haus. Da seine Mutter durchgebrannt war, blieb die Kocherei nun an Jase hängen. Er spezialisierte sich auf Eier (Spiegel- und Rühreier, verlorene und gekochte Eier) und Bohnen (aus der Dose).
Jases kleine Schwester, Charlotte, war elf und fragte ihn die ganze Zeit, wann ihre Mutter endlich wiederkomme. Sie hatte schon gelernt, daß sie ihren Vater nicht danach fragen durfte, seine Reaktionen waren völlig unvorhersehbar. Manchmal schimpfte und fluchte er. Manchmal – das erzählte uns Jase aber erst Jahre später – begann er zu weinen, lautlos strömten Tränen über seine Wangen, und sein großes, faltiges Gesicht schien in seinen dicken Hals hineinzuschmelzen.
Also wusch Jase Charlottes Schuluniform und wechselte ihre Bettlaken. Er machte ihr Pausenbrote, als die Schule wieder anfing, und zeigte ihr, wie man einen Fahrradreifen flickte. Und es gehörte zu Jases Aufgaben, im Schnapsladen neben dem Supermarkt das Bier für seinen Vater zu kaufen. Der Geschäftsführer war ein alter Schulfreund seines Vaters und drückte ein Auge zu. Von Zeit zu Zeit sahen wir Jase auf seinem Fahrrad mit einer Kiste Bier am Lenker nach Hause fahren. Ende März warf sein Vater ihm einfach die Autoschlüssel zu und vergaß dabei praktischerweise, daß Jase noch keinen Führerschein hatte.
Eines der wenigen Dinge, die Bill Harbidge in diesem Sommer zustande brachte, außer den Fernseher zu bedienen, war, einen alten Kumpel zu kontaktieren, der den Polizeidienst quittiert hatte und nun für eine private Sicherheitsfirma arbeitete. Ein paar Wochen später lag ein brauner Umschlag im Briefkasten. Jase fand ihn zuerst, und neugierig geworden, öffnete er ihn. Die Fotos darin zeigten Jases Mutter und den Metzger in ganz alltäglichen Situationen. Ein paar waren im Supermarkt aufgenommen, auf einem schiebt Jases Mutter den Einkaufswagen, während der Metzger eine Büchse mit irgendwas aus einem hohen Regal holt. Auf einem anderen wählt sie Äpfel aus. Auf einem weiteren jätet sie offenbar Unkraut in einem Garten vor einem blauweißen Haus mit einem großen Baum am Tor. Dann gab es eines, auf dem der Metzger und Jases Mutter auf einer Picknickdecke im Gras saßen und Fish ’n’ Chips aßen. Zuerst konnte Jase nicht sagen, warum seine Mutter so anders aussah. Sie schien sogar eine andere Frau zu sein. Er brauchte eine Weile, um zu erkennen, woran das lag: Auf fast jedem Bild lächelte sie.
Der Januar 1981 ging in den Februar über. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Schule wieder anfing – in der zweiten Februarwoche –, hatte es nicht geregnet, höchstens mal ein bißchen genieselt. Tagsüber war es nicht mehr so heiß wie in den vergangenen beiden Monaten, aber dennoch mußten die Kippfenster in den Klassenzimmern geöffnet werden, um eine kühle Brise hereinzulassen. Der Gestank des verrottenden Meersalats war noch immer heftig, auch wenn die Blüte der Pflanze ihren Höhepunkt inzwischen überschritten zu haben schien. Die Lehrer brachten Frischluftsprays in die Klassenzimmer und nebelten die Luft über uns damit ein. Eine Weile brachte das etwas, aber der Gestank gewann immer wieder die
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