Rocking Horse Road (German Edition)
und Jenny mit dem Rücken an sich preßte, wobei er den linken Arm über ihre Kehle legte. Den rechten Arm wand er um Jennys Hüften und zerrte sie rückwärts durch eine Lücke im Gebüsch. Er muß sehr kräftig gewesen sein, denn er hob sie ganz in die Luft, doch wurde er später als »spindeldürr, wie ein großer Junge« beschrieben. Tracy sagte, ihre Freundin habe um sich getreten wie eine Ertrinkende.
Tracy räumte ein, der Mann konnte jedes Alter gehabt haben, zwischen sechzehn und siebzig. Sie sagte der Polizei, sein Hut habe eine breite Krempe gehabt und sei tief ins Gesicht gezogen gewesen. Sie habe den Eindruck gehabt, seine Hände und Unterarme seien braun gewesen »wie bei einem Surfer, einem Maori oder so was«, was der Polizei (und uns) nicht wirklich weiterhalf. Er schien Jenny ins Ohr zu flüstern. Tracy meinte, er habe einen Regenmantel getragen, war sich aber nicht sicher.
Aber man muß Tracy auch bewundern. Die meisten Mädchen (und sogar Jungen) in ihrem Alter hätten sich auf der Stelle umgedreht und wären Hals über Kopf weggerannt. Später hätten sie es vielleicht so gedreht, daß sie so schnell wie möglich Hilfe holen wollten: Doch der erste Impuls ist immer das eigene Überleben, einfach wegkommen. Wenn man jedoch das jüngste von sieben Kindern ist, braucht man einiges an Widerstandskraft. Tracy Templeton konnte man mit Körpergöße nicht imponieren. Wie Matt uns später erzählt hat, kam seine kleine Schwester bereits mit einer gehörigen Portion Kampfbereitschaft aus dem Schoß ihrer Mutter.
Der Kerl hatte jetzt eine Hand unter Jennys Rock gesteckt und zerrte sie ins Gebüsch. Tracy folgte ihm. Sie versuchte nicht, ihn zu treten oder zu beißen oder sonstwie zu attackieren, sondern sie fing nur an zu schreien. Offenbar war das eine erprobte Technik in häuslichen Schlachten. Bei unserem Gespräch mit ihr, zwei Wochen später, baten wir sie um eine Demonstration, und sie willigte gerne ein. Wir waren schwer beeindruckt von ihrer Lautstärke und Tonhöhe.
Auf beiden Seiten des Parks standen Häuser, und es fuhren ständig Autos vorbei. Der Kerl dachte offenbar, daß Tracys Gebrüll ihn in Schwierigkeiten bringen würde, und zwar eher früher als später. Mit einer plötzlichen Bewegung ließ er Jenny los, drehte sich um und rannte in Richtung der Kiefern an der Lagune davon. Jenny warf sich auf den Boden, und Tracy brüllte sicherheitshalber weiter, bis er außer Sicht war.
Es dauerte eine knappe halbe Stunde, bis ein Polizeihund vor Ort war, um die Spur aufzunehmen. Da hatte sich schon eine kleine Menschenmenge versammelt, und alle möglichen Gerüchte darüber, was passiert war, machten die Runde. Grant Webb, der auf dem Rückweg vom Basketballtraining vorbeikam, sah den Polizeihund an der Rutsche herumschnüffeln, wo der Täter eine Weile gesessen und gewartet haben mochte – er hatte wohl geraucht und war seinen Plan durchgegangen. Dem offiziellen Polizeibericht zufolge verlor der Hund am Ufer der Lagune die Spur. Zu dem Zeitpunkt war Flut, und der Kerl war clever genug gewesen, durch das Wasser zu waten, um seine Spur zu verwischen. Vielleicht ist er sogar ans andere Ufer geschwommen.
In der Rocking Horse Road lagen die Nerven der Leute seit Lucys Ermordung blank. Einen Überfall konnte man vielleicht noch auf das Konto »Pech gehabt« verbuchen, ein Blitz aus heiterem Himmel, Versagen der Bremsen an dem nagelneuen Wagen, den man eben nach Hause fahren will. Aber zwei ... Alle gingen davon aus, daß der Kerl, der Jenny angefallen hatte, derselbe sein mußte, der Lucy Asher ermordet hatte. Man nannte die Namen von Jenny und Lucy nun ständig in einem Atemzug. Wie oft hörten wir unsere Mütter sagen, es sei pures Glück, daß Jenny nicht wie Lucy geendet hatte!
Die Gewißheit verbreitete sich, daß ein Sexualverbrecher vielleicht nicht direkt unter uns, aber doch in nächster Umgebung auf weitere Beute lauerte. Die Leute warfen suchende Blicke auf das hohe gelbe Dünengras, ob sich vielleicht jemand darin verbarg. Das Dunkel der öffentlichen Toiletten wurde zur Gefahrenhöhle.
Einige von uns hatten Schwestern, und in späteren Jahren gingen wir alle irgendwann mit Mädchen von The Spit. Ausnahmslos konnten sie die Lektionen herunterbeten, die ihnen ihre Eltern nach dem Überfall auf Jenny Jones eingetrichtert hatten. Das neue Dogma lautete: keinesfalls mit einem Fremden reden. »Nein, nicht einmal ›Hallo‹! Den Blick gesenkt halten! Ruhig weitergehen! Nie, niemals in
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