Rocking Horse Road (German Edition)
kombiniert. Eines der Dinge, die wir bei unseren langjährigen Ermittlungen gelernt haben, ist, daß es im Leben fast nie so einfach ist.
Fünf
Zwei Monate nach der Diagnose hatte Pete deutlich abgenommen. Aber es täte uns schließlich allen nur gut, ein wenig Gewicht zu verlieren. Zwanzigjähriger Konsum von Bier und Fastfood hat sich in unserer Leibesmitte niedergeschlagen. Ende August letzten Jahres war das Fett auf Petes Hüften geschmolzen, und sein Doppelkinn gab es nicht mehr. Er sah jünger aus, sogar gesünder. Für uns, die ihn sein ganzes Leben lang kannten, schien er den Alterungsprozeß umgekehrt zu haben. Pete sah nun aus wie in seinen frühen Dreißigern, und als die Wochen verrannen, bekam er wieder diesen straffen Ausdruck, den er in seinen Zwanzigern besessen hatte. Im Oktober hatte er dann wieder den drahtigen Körper des fünfzehnjährigen Jungen, der Lucy Ashers Leiche am Strand gefunden hatte.
Er fühlte sich oft müde und zerschlagen, doch die volle Wucht der Krebserkrankung hatte ihn noch nicht getroffen. Das sollte bald geschehen und nicht mehr aufhören. Pete hatte sich angewöhnt, bei Sonnenaufgang aufzustehen und dann im ersten Morgenlicht langsame Spaziergänge zu unternehmen, die ihn kreuz und quer über The Spit führten. Oft legte er eine Pause ein und setzte sich irgendwohin. Pete lebte seit etwa zehn Jahren unten beim Naturschutzgebiet in einer Einzimmerwohnung, die er sich von dem Geld gekauft hatte, das nach seiner Scheidung noch übrig war. Seine Frau und er hatten keine Kinder, aber durch seine Arbeit und durch uns hatte er immer Gesellschaft, wenn ihm danach war. Wenn er früh aufstand, störte er damit niemanden außer den rotbraunen Kater, den er adoptiert hatte.
In der ersten Oktoberwoche ging er eines Morgens über die Schlickfelder der Lagune hinter The Spit. »Schlickfelder« ist eigentlich kein besonders treffender Ausdruck, doch wurde nie ein anderer verwendet. Bei Ebbe nämlich ist ein großer Teil der Lagune eher Sand als Schlick, grobkörnig und schwarz, durchsetzt von kleinen Krabbenlöchern und den Graffiti der Meeresschnecken. Der Untergrund ist nur an manchen Stellen richtig schlammig, und die kann man leicht erkennen und umgehen. Kilometerlang sind die einzigen wirklichen Hindernisse verwilderte Priele, die keine zwei Tage nacheinander gleich verlaufen. Sogar die zwei oder drei größten, die sich von den beiden Flußmündungen zum Südende von The Spit ziehen, wo sich die Lagune ins Meer ergießt, sogar diese verändern sich mit den Jahreszeiten. Bei Ebbe kann man stundenlang bequem dort spazierengehen. Alles, was man braucht, ist solides Schuhwerk, und man sollte ein Auge auf die Gezeiten haben, die Flut kann sehr rasch heranrollen.
Als wir ihn später im Krankenhaus besuchten, erzählte uns Pete, daß der Schmerz ihn ganz plötzlich überfallen hatte. In Gedanken versunken, war er übers Watt gegangen (wir hatten nicht den Mut, ihn zu fragen, welche Gedanken das waren), als er von einer Sekunde zur nächsten gepackt wurde – »wie heiße Granatsplitter, die in meinem Bauch explodierten.« Als hätte der gesamte Schmerz, der ihn seit seiner Diagnose verschont hatte, sich irgendwo gesammelt, um dann mit voller Wucht zuzuschlagen. Während er mit uns sprach, bewegten sich seine Beine unruhig unter der schweren weißen Bettdecke.
»Der Typ von der Ambulanz hat mich gefragt, wie stark der Schmerz war auf einer Skala von eins bis zehn. Ich habe ihm nur gesagt, er soll mich mit bescheuerten Matheaufgaben verschonen und sich mit den Schmerzmitteln beeilen.«
Eine alte Frau, die auf der Lagunenseite von The Spit lebte, hatte Petes Spaziergang über die Schlickfelder offenbar durch ein Fernglas beobachtet. Als sie sah, wie er sich an den Bauch griff und zu Boden ging, hatte sie sofort einen Krankenwagen gerufen. Sie wollte ihren Namen nicht nennen. Das zeigt nur, daß manchmal auch neugierige Nachbarn ihr Gutes haben.
Die Sanitäter mußten zu Fuß über die Schlickfelder kommen. Gut, daß sie sich beeilten, denn die Flut stieg schon, als sie bei Pete waren. Er lag in Fötushaltung, und sie hoben ihn aus dem Wasser, das seinen Körper umspülte. Tropfnaß und stöhnend vor Schmerz legten sie ihn auf die Trage. Jede Bewegung verursachte ihm Höllenqualen. Zusammengekrümmt wie ein Ammonit hing er zwischen ihnen und hörte, wie sie rummeckerten, weil ihre Schuhe naß wurden.
Trotz seines dramatischen Zusammenbruchs behielten sie Pete bei diesem ersten Mal nur
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