Rocking Horse Road (German Edition)
die Mittagsglocke läutete, mußten wir das Fundbüro geöffnet haben.
Das war keine so hirnlose Beschäftigung, wie man annehmen könnte, denn da ging es auch um Geld. Etwas wiederzubekommen kostete 20 Cent. Wer auf dem Dienstplan stand, mußte sich von dem Lehrer, der gerade Aufsicht hatte, Geld holen und dann genau Buch führen, wieviel bezahlt wurde (manche Kinder holten mehr als einen Gegenstand ab), wer bezahlte und was er oder sie abholte. Das Geld brauchte man zum Rausgeben. Die Theorie dahinter war, daß man weniger nachlässig mit seinen Sachen umging, wenn man sie nur gegen Bezahlung (und nur an einem Tag pro Woche) wiederbekam. In der Praxis aber wurde massenhaft und gewohnheitsmäßig Zeug verloren. Dieselben Kinder kamen jede Woche wieder, um nach ihren Sachen zu suchen. Dieselbe Tasche oder dasselbe Mäppchen flogen zwischen ihren Besitzern und dem Fundbüro instinktsicher hin und her wie Brieftauben. Manche Sachen wurden von ihren Besitzern am Mittag abgeholt und fanden sich noch am selben Tag vor Schulschluß wieder im Fundbüro ein.
Mark Murray machte es nichts aus, im Fundbüro zu stehen. Es war der zweite Mittwoch im Mai. Um Viertel vor eins hatte er bereits 2,40 Dollar eingenommen und dachte daran, früher zu schließen, um sich in der Kantine ein Stück Kuchen zu holen; da aber tauchte ein Mädchen aus der 10. Klasse auf. Wir haben nie erfahren, wie sie hieß, aber Mark beschrieb sie als bleich und dürr mit langen schwarzen Haaren und Mittelscheitel. »Ein bißchen wie das Mädchen aus The Munsters«, sagte er (ganz schön anmaßend, wenn man bedenkt, daß sein eigenes Haar ihm den Spitznamen »Afro Man« eingetragen hatte). Das Mädchen erklärte ihm, daß sie eine Jacke suchte, die sie wohl im Oktober des Vorjahrs verloren hatte. Als er sie fragte, warum sie nicht schon früher nach der Jacke gefragt hatte, sah sie ihn an, als wäre er nicht ganz dicht: »Es war Sommer, da habe ich sie doch gar nicht gebraucht, oder? Jetzt ist es kalt.«
Die Sachen wurden ohne System ins Fundbüro gestopft. Die neuesten Fundsachen lagen darum meistens vorn. Suchte man weiter hinten, wurde man zum Archäologen: Man mußte durch diverse Schichten, die sich über Wochen und Monate gebildet hatten, graben. Die einzige Kompletträumung hatte stattgefunden, als das Fundbüro 1978 Material für einen Stand auf dem Schulbazar bereitgestellt hatte. Mark wußte nicht, wo er mit der Suche beginnen sollte. Diverse Jacken und Schirme hingen an einem Haken hinter der Tür, aber einiges davon war runtergefallen. Das Mädchen hatte gesagt, ihre Jacke sei schwarz. Sie schaute ihm über die Schulter, als Mark die oberste Jacke vom Boden auf hob und dann die nächsten. Darunter fanden sich auch noch drei Taschen, die nicht abgeholt worden waren; die schob er mit dem Fuß zur Seite. Neben ihnen lag, halb bedeckt von einem Regenmantel, eine Sporttasche aus Leinen, die Mark sofort erkannte. Sie war olivgrün und hatte zwei Träger, die Lucy sich immer über den Arm schob, so daß die Tasche an ihrer Schulter hing. Lucy hatte die Tasche mit einem Filzstift bekritzelt, und vorne war ein rotes Peace-Zeichen aufgenäht.
Mark befahl dem Mädchen, draußen zu warten, und als sie beleidigt rausgegangen war, öffnete er die Tasche. Darin war eine Dose Cola, eine kleine Plastikschachtel mit Tampons (das war Mark unangenehm), zwei Französischbücher und ein Buch über Fotografie aus der Bücherei – längst überfällig – mit einer nackten Schwarzen auf dem Einband. Ganz unten in der Tasche fand er ein kleines blaues Notizbuch, das mit einem gelben Band umwickelt war. Vorne drauf stand: LUCY A. PRIVAT! Die Buchstaben waren so oft mit schwarzem Filzstift überschrieben, daß man die Wörter mit den Fingerspitzen ertasten konnte.
»Ist sie nun da oder nicht?«
»Was?«
»Meine Jacke.«
»Nein, leider.«
Das Mädchen schaute ihn mißtrauisch an. »Alles okay mit dir?«
»Ja. Klar. Bestens.«
Sie schüttelte den Kopf. »Meine Mutter macht Hackfleisch aus mir.« Mark ließ sich nicht darauf ein, und sie zog ab.
Lucy Ashers Tagebuch lag auf dem Billardtisch, im Schein von Jim Turners Taschenlampe. Der Lichtkegel vibrierte leicht. Ob Jims Hand vor Aufregung zitterte oder von der Anspannung, die Lampe ruhig zu halten, konnte man nicht sagen. Es war 21 Uhr, draußen herrschte tiefe Dunkelheit. Leichter Regen fiel auf den Asphalt der Rocking Horse Road. Von der Garage aus konnten wir die niedrigen Wellen hören, die sich auf der
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