ROD - Die Autobiografie
die unvermeidlichen Bemerkungen seiner Tanten über sich ergehen lassen, wann er denn endlich ein nettes Mädchen finden und eine Familie gründen würde. Auch seine Mutter machte sich Sorgen und sagte ihm einmal, dass sie es nicht gerne sähe, wenn er mit mir zusammen abhing, weil ich ihr »ein bisschen schwul« vorkäme.
Long John lebte für die Musik. Er hatte im Ealing Jazz Club herumgehangen – einem feuchten Keller, wo ein über der Bühne aufgespanntes Tuch verhindern sollte, dass von der Decke Kondenswasser auf die Musiker tropfte – und war Mitglied des Kollektivs Blues Incorporated mit Alexis Korner und Cyril Davies geworden, deren Vorbild Muddy Waters war und die sich zur »ersten weißen Electric-Blues-Gruppe der Welt« erklärten. Als Korner plante, aus Blues Incorporated eine Progressive-Jazz-Band zu machen, wechselte Long John als Sänger zu den Cyril Davies R&B All Stars, die wie John den Chicago Blues bevorzugten.
Davies war ein zur Glatze neigender, rundlicher Mann mit einem Koffer voller Mundharmonikas, mit denen er einen Sturm entfachen konnte. Er hatte definitiv weniger Schwierigkeiten als ich, das mit dem Ziehen und Blasen zu verstehen. Leider verschlechterte sich sein Gesundheitszustand plötzlich, und im Januar 1964 starb er – an einer Herzentzündung, wie die Leute damals sagten, wahrscheinlich war es Leukämie. Er wurde nur einunddreißig.
Long John beschloss, Davies mit einem Tribute-Konzert der All Stars auf Eel Pie Island zu gedenken – einer Totenwache in Form eines Gigs. Ich ging hin, erinnere mich aber kaum noch daran. Man erzählt sich jedoch, dass auch Ian McLagan im Publikum war, später Keyboarder bei den Faces. Als Vorband traten wohl Jeff Beck and The Tridents auf. So klein war die Szene damals: Immer standen alle, die später wichtig werden sollten, am selben Ort herum. Eine unglückliche Gasexplosion unter dem falschen Club am falschen Abend und drei Viertel der Geschichte der britischen Rockmusik wären auf einen Schlag ausgelöscht worden.
An das, was nach der Show geschah, erinnere ich mich jedoch: Ich saß auf dem Bahnsteig von Twickenham und wartete auf den Zug nach Waterloo. Um mir die Zeit zu vertreiben, holte ich die Mundharmonika aus meiner Manteltasche und spielte das Riff von Howlin’ Wolfs »Smokestack Lightnin’«, einer Bluesnummer, die ich leidlich beherrschte.
In der Version, die Long John später erzählte, spitzte er die Ohren, als er in jener Winternacht einen wunderbar melancholischen Blues durch den verlassenen Bahnhof klingen hörte. Nett. Aber wohl kaum wahr, wenn man bedenkt, auf welchem Stand mein Mundharmonikaspiel damals war. Vielleicht war er betrunken. Oder ich – und spielte dadurch besser als je zuvor. Wie auch immer, er kam auf mich zu, wie ich dort dick eingemummelt gegen die Kälte saß – er beschrieb mich als ein Bündel Lumpen, aus dem eine große Nase hervorlugte –, und stellte sich vor.
Der Zug kam an, wir fuhren zurück in die Stadtmitte und redeten darüber, wie er die Cyril Davies R&B All Stars trotz Davies’ Abwesenheit weiterführen wollte, umbenannt in Long John Baldry and the Hoochie Coochie Men. Als wir die Waterloo Station erreichten, hatte er mich schon gefragt, ob ich Lust hätte, Background-Sänger in der Band zu werden; 35 Pfund pro Woche würde er mir zahlen.
Hätte ich in diesem Moment noch Mundharmonika gespielt, hätte ich sie wahrscheinlich verschluckt. 35 Kröten in der Woche! Schon 20 Pfund wöchentlich waren tausend im Jahr – so viel verdienten damals Menschen mit richtigen Jobs. Und er bot mir fünfunddreißig … als Background-Sänger!
Woher wusste er überhaupt, dass ich singen konnte? Vielleicht hatte er mich mit Jimmy Powell gesehen. Vielleicht hatte ihm jemand einen Tipp gegeben. Oder vielleicht fand er mich auch einfach nur attraktiv (wobei er so etwas natürlich nicht erwähnte). Es schien alles sonderbar magisch und einfach, wie in einem Film. Gerade weiß man noch nichts mit sich anzufangen und wartet bloß auf den Zug, und im nächsten Augenblick werden einem Top-Konditionen als Profimusiker angeboten.
Natürlich ergriff ich die Gelegenheit, oder etwa nicht? Nein, ich tat, was jeder gute achtzehn-, bald neunzehnjährige Junge tun würde: Ich sagte, da müsse ich zuerst meine Mum fragen.
Ich vermute, irgendwo im Hinterkopf stellte ich mir schon vor, wie am nächsten Tag zu Hause das Gespräch über diese Begegnung aussehen würde: »Ich habe gestern Abend so einen gut aussehenden
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