Römer im Schatten der Geschichte
Armen gleichen bescheidenen und gewöhnlichen Orten, wo man Mist und sonstigen Unrat ablädt« (
Traumbuch
2,9).
Die Lebensweise am Existenzminimum umfasst ein weites Spektrum – vom Straßenbettler bis zum Bauern, Pächter und Tagelöhner. Jenseits dieses Spektrums liegt das Dasein der Bevölkerungsgruppe, die ich als gewöhnliche Menschen bezeichne, diejenigen, die über ein gewisses Polster verfügten, doch nicht wohlhabend genug waren, um bis in die Welt der Elite vorzustoßen. Die Abgrenzung dieser beiden Gruppen ist jedoch zwangsläufig unscharf. Während ein etwas erfolgreicherer Handwerker als normaler Römer gelten kann, gehört der arme Handwerker, der kaum das Lebensnotwendige erarbeitet, zu den »Armen« – wie der Schuhmacher Mikyllos in Lukians Geschichte vom Hades:
Nun, so will ich denn heulen, weil du es so haben willst, Hermes. – O meine alten Pantoffeln! Hu, hu, hu, meine durchgetretenen Schuhsohlen! nun werd’ ich Unglücklicher nicht mehr vom Morgen bis an den Abend ohne Nahrung sein, und im Winter nicht mehr ohne Schuhe und halbnackt herumirren und vor Kälte mit den Zähnen klappern! (
Die Überfahrt
, Bd. 2, S. 229 f.)
Grob geschätzt, genügte wahrscheinlich ein jährliches Bareinkommen von etwa 300 Denaren, um einer Familie von durchschnittlicher Größe – außer in den größeren Städten – ein Auskommen über dem Existenzminimum zu ermöglichen. Das entspräche dem Betrag von einem Denar täglich für die Dauer eines Jahres, dem vermutlich besten Durchschnittslohn; üblich war der niedrigere Tageslohn von einem halben Denar. Chronische Unterbeschäftigung und fluktuierende Nachfrage nach Arbeit und Produkten sowohl im städtischen wie im ländlichen Umfeld führten außerdem dazu, dass die meisten nur unregelmäßig beschäftigt waren und keine Maximallöhne erhielten; zumeist, wenn nicht immer, fristeten sie ihr Dasein am Rande des Existenzminimums. Das wären die Armen.
Ist es vertretbar, alle Menschen, die an der Armutsgrenze leben, in einen Topf zu werfen, wenn es darum geht, eine geistige Welt darzustellen? Schließlich lässt sich einwenden, dass ein Bauer, der ein mageres Stück Land bewirtschaftet und, den Hunger vor Augen, immerhin eigene Nahrungsquellen besitzt, wesentlich andere Perspektiven hat als ein Bettler oder Tagelöhner. Gemeinsam ist ihnen dennoch die Situation großer Abhängigkeit: Sie sind am wenigsten in der Lage, ihr Schicksal zu gestalten und mit einer stets unsicheren Zukunft fertig zu werden. Ein ähnlicher Zustand der Hilflosigkeit und ständig drohender, wenn nicht akuter Verzweiflung verbindet sie in der Einschätzung des Vordringlichen, der besten Überlebensstrategien und ihrer Stellung in der Welt. Das Thema dieses Kapitels sind also alle freien Bewohner des Römischen Reiches, die in schwierigen oder gar hoffnungslosen Umständen lebten, ohne je auf eine Verbesserung ihrer Existenzgrundlagen hoffen zu können.
Zu ihnen gehören zweifellos die Bauern in den ländlichen Regionen. Als Bauer wird üblicherweise definiert, wer eigenes Land bestellt, und unabhängige Landbewohner dieser Art gab es im Kaiserreich in großerZahl. Das
Moretum
, ein literarisches Werk im Stil Vergils, hält die Wirklichkeit des bäuerlichen Lebens am Rande des Elends annäherungsweise fest: das Minimum an Nahrung und ein Einkommen, das der spärliche Verkauf von Gemüse auf dem städtischen Marktplatz nur geringfügig aufbesserte. Verbreitet waren auch die Pächter, die das Land, das sie bebauten, möglicherweise einmal besessen, aber infolge Überschuldung an einen Großgrundbesitzer verloren hatten, der ihnen den Boden dann gegen jährliche Gebühren oder Anteile an den Erträgen weiter zur Bearbeitung überließ. Das Gleichnis vom Weinberg ist nicht nur eine lebendige Schilderung ihrer Situation, sondern auch der Möglichkeit, wie sie dem Grundbesitzer zur Plage werden konnten:
Es war ein Hausvater, der pflanzte einen Weinberg und führte einen Zaun darum und grub eine Kelter darin und baute einen Turm und tat ihn den Weingärtnern aus und zog über Land. Da nun herbeikam die Zeit der Früchte, sandte er seine Knechte zu den Weingärtnern, daß sie seine Früchte empfingen. Da nahmen die Weingärtner seine Knechte; einen stäupten sie, den andern töteten sie, den dritten steinigten sie. Abermals sandte er andere Knechte, mehr denn der erstern waren; und sie taten ihnen gleichalso. Darnach sandte er seinen Sohn zu ihnen und sprach: Sie werden sich vor
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