Römer im Schatten der Geschichte
werden, um dann entsprechend zu einer Gesamtdarstellung beizutragen. Schließlich gibt auch das Neue Testament, namentlich in den bildhaften Situationen und Gleichnissen der Evangelien, Einsicht in die Vorstellungswelt der Armen. Die Gesamtheit des Quellenmaterials ergibt vielleicht ein überraschend kohärentes Bild, das zeitübergreifend für das gesamte Römische Reich Gültigkeit hat.
Demographie
Aus der römisch-griechischen Welt – und auch aus der klassischen Welt ganz allgemein – liegen keine quantifizierbaren Angaben vor, die nennenswert dazu beitragen könnten, die relative Größe der demographischen Gruppen des Imperiums zu bestimmen. Selbst die Zahl der Gesamtbevölkerung – vielleicht 50 – 60 Millionen – ist nicht viel mehr als Vermutung. Außerdem können die relativen Zahlen orts- und zeitabhängig schwanken. Ich gehe allerdings davon aus, dass die Verhältnisse in den vorindustriellen Gesellschaften Europas und des Mittelmeerraums ein mehr oder minder vergleichbares Grundmuster aufweisen, und lege darum eine sehr allgemeine Vorstellung der Zahl in Armut lebender Menschen zugrunde. Ausgehend von Untersuchungen zum Europa der Frühmoderne, wo historische Dokumente eine realistische Beurteilung der Größe verschiedener ökonomischer Gesellschaftsgruppen erlauben, schätze ich, dass annähernd 65 Prozent der Bevölkerung, Sklaven und Freie, eine Existenz »am Rande« führten – das heißt, sie waren in ihrer kümmerlichen Existenz durch jeden Einbruch von Naturkatastrophen, Seuchen, Hungersnöten oder anderen Heimsuchungen vom Tode bedroht.
Die Armen lebten in sozioökonomisch benachteiligten und ungewissen Verhältnissen, und dieser Zustand bestimmte ihr Denken – eine verallgemeinernde Erklärung, die ein wichtiges Stück Alltagsrealität der römisch-griechischen Welt verdeckt. Die jeweilige Situation der Armen war von Ort zu Ort verschieden. Für eine sorgfältige Analyse müsste man zum Beispiel die Armen in Britannien betrachten und sich mit ihrer lokalen Überlieferung und Ökologie beschäftigen oder arme Bewohner Ägyptens im Licht ihrer sehr andersartigen kulturellen Gegebenheiten und wirtschaftlichen Möglichkeiten untersuchen. Arme, die in einer Welt klimatischer Extreme lebten und sich unberechenbaren Fluten oder Sandstürmen oder Dürrezeiten ausgesetzt sahen, hatten zum Schicksal vielleicht eine andere Einstellung als Menschen in einer Umgebung mit mehr oder weniger vorhersehbaren Veränderungen. Diese Vielfalt menschlicher Erfahrungen soll nicht bagatellisiert werden; allerdings liegt mir daran, die allgemeine Erfahrung eines Lebens am Rande und die sich daraus ergebende Gemeinsamkeit maßgeblicher Einstellungen zu betonen,denn die Welt des Mangels war die einzige, die sie kannten. Die Umwelt war eine stets gegenwärtige, wenn auch zeitweise nur potenzielle Bedrohung, die soziale Welt eine Ordnung zu ihrer Unterdrückung. Die Armen erlebten das Imperium als eine Welt der Unruhe und Ungleichheit. Ungewissheit von einer Sekunde zur andern war die Konstante ihres Daseins. Ihre soziopolitische Lage war die der Unterwerfung – sei es vor dem Steuereintreiber, dem Beamten, dem Grundbesitzer, dem Geldverleiher oder einfach nur vor der Not. Ihr eigener Herr waren sie in keinem Sinn des Wortes. Andererseits wurde ihr Denken auch von der unabänderlichen Gegebenheit des Status quo bestimmt. Die Fabel vom Schwanz der Schlange zeigt, dass es klug ist, sich der naturgegebenen Führung durch die Elite zu beugen:
Einst wollt der Schwanz der Schlange es nicht mehr ertragen, / daß immer nur der Kopf die Führung hab, und machte nicht mehr mit. / »Auch ich«, so sprach er, »für mein Teil, möcht einmal vorne sein!« [Er versucht zu führen, sieht aber nichts, so dass die Schlange in ein Loch fällt und sich schwer verletzt.] … Nun fleht der erst so Stolze untertänig: / »Herr Kopf, so rette uns, wenn du’s vermagst! / Mit Bösern bin in einen bösen Streit ich eingetreten. / Jetzt will ich besser dir, wenn du befiehlst, / gehorchen, daß du später – niemals werd ich mehr / den Führer spielen wollen! – Übles nicht zu fürchten hast.« (Babrios,
Äsopische Fabeln
134)
In Sprichwörtern erscheint die Welt im Zustand der Stabilität und nicht, wie häufig in den Schriften der Elite, des Niedergangs. Die Ordnung des Universums wird als statisch vorausgesetzt, die sozialen Perspektiven als unveränderlich – so, wie sie sind, müssen sie sein. Das »Sein« und das
Weitere Kostenlose Bücher