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Römer im Schatten der Geschichte

Römer im Schatten der Geschichte

Titel: Römer im Schatten der Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Knapp
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»Sein-Sollen« der Welt sind eins. Auf diese Weise entsteht eine konservative geistige Welt, die einengt und hemmt. Die Menschen können wählen und treffen ihre Wahl, aber das Spektrum ist sehr beschränkt – oft fehlen Optionen. Folgerichtig ist im Denken der einfachen Römer über Generationen kein Hinweis auf einen sozialen Fortschritt zu erkennen. Ein Leben gleicht dem andern, nur die Spieler wechseln. Und gerade diese Stabilität drückt aus, wie vieles den meisten versagt war. Sprichwörter spiegeln den Volksglauben, dass das Leben schwierig ist und vieles, was man tut, vergebens. »Die Hinfälligkeit und Zerstörung alles menschlichen Lebens ist ein durchgehendes Thema«, formuliert TeresaMorgan. Die Armen müssen mit der Veränderlichkeit der natürlichen und der Unveränderlichkeit der sozialen Verhältnisse fertigwerden. Weder die einen noch die anderen bieten nennenswerte Chancen, sich aus der herrschenden Situation herauszumanövrieren, und beide fördern ein Verhalten, das ein Überleben in diesem Rahmen ermöglicht.
    Der Kampf ums Überleben
    Im Zentrum der Reaktion des Armen auf sein prekäres Dasein steht ein System von Überzeugungen und Werten, das, aus der Lebensrealität erwachsen, dieses Leben organisiert, antreibt, erhält und ihm Veränderungen verwehrt. Diese geistige Welt wird beherrscht von Reaktionen auf den sie wesentlich prägenden Zustand: das drohende Scheitern beim Versuch, sein Auskommen zu finden. In ihr dreht sich alles um die unabwendbaren Lebenskrisen und die Versuche, ein soziales und moralisches Handeln zu unterstützen, das am ehesten geeignet ist, das Überleben im Jetzt und auf lange Sicht eine soziale Kontinuität zu sichern. Für Reflexion und Tiefsinn bleibt wenig Zeit; der Akzent liegt auf dem Tun, nicht auf der Gesinnung. Klug heißt für den Armen lebensklug zu sein – zu wissen, was zu tun und was zu lassen ist; abstrakte Betrachtungen bestimmter sozialer Verhaltensformen sind selten. Damit ist nicht gesagt, dass die Armen nicht kreativ seien; gesagt ist nur, dass ihr kreatives Denken begrenzt ist, weil sie sich auf das dringlichste Geschäft konzentrieren müssen – das Problem, den Herausforderungen vonseiten der Mitmenschen und der physischen Umwelt zu genügen. In ihrem Kampf ums Überleben sind die Armen vor allem wirklichkeitsbezogen.
    Reflexion als Selbstbesinnung ist dementsprechend nur wenig ausgeprägt. Es fehlt der Versuch, sich selbst zu prüfen und daraus verhaltensrelevante Schlüsse zu ziehen. Für den Armen ist ein »Erkenne dich selbst« keine Mahnung zu erbaulicher Einkehr, sondern vielmehr die Mahnung zu praktischen Überlegungen über den möglichen Ausgleich konkurrierender Imperative (z. B. Freundschaft vs. Gewinn). Das philosophische Denken war tendenziell idealistisch ausgerichtet, das der Armen nur praxisbezogen. Die Anschauungen der Volksmoral unterscheiden sich also, wie Fabeln und Sprichwörter belegen, erheblich von denen der »gehobenen«philosophischen Systeme jener Zeit. Für den Armen ist Klugheit gleichbedeutend mit der Möglichkeit, in einer feindlichen Welt zu überleben, nicht aber mit einer Quelle des »Wissens« oder der Möglichkeit, soziale Probleme auf einer überindividuellen abstrakten Ebene zu lösen.
    Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, im Denken der Armen nennenswerte Elemente irgendeines der großen philosophischen Konzepte aus den Schulen der Elite auszumachen. Um das Streben nach
eudaimonia
(Glück) schert sich die Volksmoral keinen Deut; die Vorstellung vom Guten als Hauptquelle des menschlichen Lebens, das heißt von der Tugend um ihrer selbst willen, ist ihr fremd, das stoische Ideal der
apatheia
und
ataraxia
(Gelassenheit) rätselhaft, und die Fixiertheit der Kyniker auf den Wert der Armut konnte den unwiderruflich Armen nur absolut sinnlos erscheinen; jeder Konflikt zwischen Schicksal und Willensfreiheit ist unbekannt, denn beide verbindet ein spannungsloses Nebeneinander; die Idee, sich mit den Epikureern oder Kynikern den Normen des sozialen Lebens zu verweigern, ist ein Luxus jenseits der Erfahrungswelt der Armen. Andererseits aber sind der gehobenen Philosophie und den Anschauungen der Armen auch viele Einstellungen und viele »Helden« gemeinsam. Die Autoritäten, auf die sich der Volksmund am häufigsten beruft, die die Hälfte aller zitierten Berühmtheiten ausmachen, sind (in dieser Reihenfolge): die Sieben Weisen, Äsop und Sokrates. Doch wie und wie weit die beiden Gedankenwelten miteinander in

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