Römer im Schatten der Geschichte
schlimmem Leid und Schmerzen mich aufrichten!« / »Doch wer, mein Lieber, von den Göttern soll dir helfen? / Wen hättst du nicht an dem Altare je bestohlen?« (Babrios,
Äsopische Fabeln
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Das gebotene Verhalten wird mit sozialen Mitteln durchgesetzt – in der Hauptsache und höchst wirksam durch Klatsch, Spott, Vorwurf, mündlichen Tadel und schließlich durch Ächtung –, während Zwangsmaßnahmen etwa durch ein Polizeiaufgebot vollständig fehlen, ein Faktor, der als Teil der geistigen Welt der Armen nur selten sichtbar wird. Es sind dies natürlich unvollkommene Waffen, die unserem Denken nach oft unfair und oft auch ohne Einspruchsmöglichkeit eingesetzt werden – die
opinio communis
der Gruppe wird vorgeschrieben, ohne dass eine offizielle Plattform die Möglichkeit böte, Einwände vorzubringen. Die aufputschenden Folgen dieser Situation zeigen sich in Familienfehden, in der verallgemeinernden Überzeugung, dass Selbsterhöhung, in gewissen Grenzen natürlich, und ähnlich egozentrisches Verhalten akzeptabel sei. Infolgedessen zeigen sich die Armen nur ungern allzu vertrauensvoll, selbst Freunden gegenüber, wie ein Sprichwort sagt: »Die stete Furcht nur macht dein Leben sicher« (Publilius Syrus, Sentenz 401).
Eine andere Seite der geistigen Welt der Armen, die sie immer wieder ins Blickfeld der Nicht-Armen rückt, ist ihre Einstellung zur Arbeit. In der antiken Literatur fällt mit schöner Regelmäßigkeit der Vorwurf, die Armen seien arbeitsscheu. Löst man sich jedoch von diesem in der Elite verbreiteten Negativklischee, bleibt als Faktum, dass die Armen harte Arbeit durchaus schätzen. Fabeln in dieser Richtung sind zahlreich: »Die Ameise und die Fliege«, »Der alte Bulle und der junge Stier«, »Wie die Lerche erkannte, wann sie fortfliegen mußte« und »Als der Faulpelz zur Ameise ging«, um nur wenige Beispiele zu nennen. Allerdings ist einschränkend zu sagen: Auch wenn die Armen hart arbeiten – zu Tode arbeiten wollen sie sich nicht. Ihre Aussichten lassen diesen Aufwand als sinnlos erscheinen. Sie wollen überleben, nicht florieren. Ihre prekäre Existenz hat sie gelehrt, dass sich die Risiken, die man eingehen muss, um »aufzusteigen«, nicht lohnten, denn es besteht die sehr reale Aussicht, dass ein Streben nach mehr mittels veränderter Strategien oder sozialer Arrangements nur zum Bumerang werden und sie vernichten würde. Also lassen sie Vorsicht walten und hüten sich davor, sich über das Konservative hinauszuwagen. Diese Risiko-Aversion findet ihren Ausdruck in der Fabel »Der kleine Fisch im Netz«: Ein Fischlein an der Angel bittet den Fischer, es freizulassen – was könne es ihm, so wenig ausgewachsen, wie es sei, denn nützen; er solle später wiederkommen, dann werde er es gut gefüttert und passend für einen reichen Tisch wieder einfangen. Der Fischer jedoch entgegnet:
»Wer nicht auf Kleines, wenn es sicher, achtet, … / sondern Ungewissem nachjagt, der ist töricht.« (Babrios,
Äsopische Fabeln
6)
Moderne Untersuchungen haben gezeigt, dass mit härterer Arbeit der Armen und intensiverer Nutzung aller verfügbaren Ressourcen die Familien wachsen und sich ein neues Gleichgewicht zwischen Ergebnissen und Bedürfnissen einstellt, und zwar auf annähernd demselben Lebensstandard wie zuvor, nun aber für mehr Personen. Außerdem haben die Armen das Empfinden, größere Erträge bedeuteten nur, dass ihnen mehr genommen wird und ihnen nicht etwa auf die Dauer mehr bleibt. Auch der Nullsummen-Charakter der Wirtschaft, zumindest aber das, was als solcher wahrgenommen wird, verstärkt diese Tendenz, an einem gewissen Punkt das Arbeiten aufzugeben, denn die Gruppe als Ganze wirdDruck auf die Untereinheiten ausüben, nicht zu hart zu arbeiten, nicht mehr als einen angemessenen Anteil verfügbarer Ressourcen zu erwerben, da der Gewinn der einen Einheit für eine andere Verlust bedeutet. Diese Faktoren laufen eindeutig auf Aleksandr Čajanovs »Theorie der Plackerei« hinaus, die – zu Beginn des 20. Jahrhunderts ursprünglich im Rahmen von Untersuchungen der bäuerlichen Wirtschaft Russlands entwickelt – sich in der Folge aber als allgemein anwendbar erwies. Die Theorie besagt, dass der Arme seine Arbeit dann einstellt, wenn er zu dem Schluss kommt, dass weitere Anstrengung nicht genügend Ertrag abwirft, um die Beschwernis der Mehrarbeit aufzuwiegen. Von außen betrachtet, mag die Faulheit dieses Armen als irrationales Verhalten erscheinen, doch tatsächlich
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