Roen Orm 3: Kinder des Zwielichts (German Edition)
Kräfte, um ungesehen zu entkommen.
„So wird das nichts, Eiven!“, rief Avanya. „Die Stute flieht vor uns, auch wenn sie immer in der Nähe bleibt. Sie hat zu viel Angst vor uns.“
„Lass uns kurz ausruhen, dann überlegen wir, wie es weitergeht“, schlug er vor, froh, dass Avanya sich einen Moment lang von ihm löste, obwohl er wieder auf einem Baum gelandet war. Sie umklammerte den Stamm, völlig verkrampft vor Angst, beschwerte sich aber mit keiner Silbe. Ihre Tapferkeit beeindruckte Eiven noch mehr als ihr phänomenaler Geruchsinn. Trotzdem tat es gut, ihr Gewicht kurz los zu sein, gleichgültig, wie leicht ihr zarter Körper war. Seine Augen brannten von dem Schweiß, der aus seinem Haar tropfte. Er konnte ihn nicht fortwischen, ohne das Pferdchen loszulassen, was nicht in Frage kam. Seine Arme waren so ermüdet, wenn er den kleinen Hengst absetzte, war es nicht auszuschließen, dass er ihn danach nicht mehr heben konnte.
„Wir könnten das Fohlen irgendwo hinbringen und die Saduj zu uns locken. Eventuell holt die Mutter den Kleinen zu sich, während wir die Meute ablenken“, murmelte er ratlos.
„Es wäre eine Möglichkeit … Wenn sie aber in dem Moment zu weit weg ist, könnte es länger dauern als wir beide gegen die Saduj durchhalten. Du bist erschöpft und ich bin verletzt.“
„Was dann?“, fragte er, als er sah, wie Avanya zögerte.
„Du sagtest, Loy und Flügelpferde hätten sich früher, hm, vertraut?“
„So erzählt man es sich, ja, warum?“
„Vielleicht könntest du nach ihr rufen? In der Sprache der Loy, meine ich? Möglicherweise versteht sie dich, wenn du ihr sagst, was wir vorhaben. Eher jedenfalls, als dass sie Roensha oder Nileri, also meine Sprache, verstehen würde.“
„Versuchen können wir es“, erwiderte Eiven zweifelnd. „Falls es nicht funktioniert, fliege ich zurück zu deiner Höhle. Wir sind dem inneren Gebiet der Bussarde gefährlich nahe, und ich kann wirklich nicht mehr lange weitermachen.“
Avanya klammerte sich erneut an ihn, überrascht, wie angenehm es war, wieder Gesellschaft zu haben, selbst wenn es kein Nola war. Einen lebendigen Körper zu berühren statt ausschließlich Fels und Gestein. Eivens Kraft war nicht erschreckend, obwohl er so viel größer war als sie. Etwas an ihm weckte ihr Vertrauen, stärker noch als Thamar.
Eiven streckte seinen muskulösen Körper und schraubte sich mit kraftvollen Flügelschlägen in die Höhe. Einen Aufwind nutzend, trieb er einige Augenblicke lang über den Baumwipfeln dahin, dann schoss er voran, bis sie sicher sein konnten, dass die Saduj weit hinter ihnen zurückgefallen waren. Er landete auf einer leichten Anhöhe, und rief in seiner eigenen Sprache nach dem Flügelpferd. Avanya lauschte den fremden, kehligen Lauten. Sie erinnerten tatsächlich an Vogelstimmen, von dem heiseren Krächzen der Raben über die schrillen Töne verschiedener Raubvögel bis hin zu dem melodiösen Gesang von Lerchen und anderen Singvögeln war alles in dieser Sprache vereint. Aber da war noch mehr, etwas in der Art, wie Eiven
manche Silben betonte. Schon als sie Roya und Niyam gelauscht hatte war es ihr aufgefallen, nun war sie sich sicher: Die Sprachen von Loy und Nola besaßen mehr Gemeinsamkeiten als Nileri und Roensha. Es musste also tatsächlich eine Ursprache geben, die einst alle Völker beherrscht hatten!
Wieder rief Eiven laut nach der Stute. Avanya sah, dass seine Arme vor Überanstrengung zitterten, lange konnte er das Pferdchen nicht mehr halten.
Hoffentlich, hoffentlich kommt sie jetzt! Das Fohlen stirbt, nun komm schon, Flügelpferd, dein Sohn braucht dich, er ruft nach dir, gemeinsam mit dem Loy. Dieses Volk kannst du nicht vergessen haben, dafür sind sie einfach zu groß!
Die Stute hörte den Ruf des geflügelten Männchens. Die Erinnerungen an ihre letzte Begegnung mit einem Geflügelten war schon lange verblasst, seither waren mehr Winter gekommen und gegangen als dieser Wald Bäume besaß, da war sie sicher. Einst hatte sie diese Worte verstanden, die von den Geflügelten geschaffen wurden, nachdem sie die gemeinsame Sprache verdrängten. Die Stute versuchte sich zu erinnern, jetzt, wo ein Augenblick lang Zeit für solche Dinge war. Die Saduj waren weit entfernt, das Rudel war erschöpft, erschöpft wie der Geflügelte.
Ob sie es wagen konnte? Doch die Flügellose war immer noch da und lange nicht so müde wie ihr Gefährte. Zögernd trippelte die Stute auf und ab. Da, wieder rief der Loy nach ihr.
Loy.
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