Roen Orm 3: Kinder des Zwielichts (German Edition)
mehr vergessen hatten als nur die gemeinsame Sprache.
Gleichzeitig mit der Nola fuhr die Stute zusammen. Die Saduj kamen. Schnaubend vergewisserte sie sich, dass ihr Sohn an ihrer Seite war, und schritt so schnell, wie er gerade noch folgen konnte, zurück in die Schatten. Sie hörte, wie der Loy und die Nola gegen die Saduj kämpften, ihr und dem Fohlen die Flucht ermöglichten. Es erfüllte sie mit Angst und Freude, dieses Bündnis von Himmel und Erde. Wenn die Kinder des Zwielichts sich erneut vereinten, standen unruhige Zeiten bevor …
24.
„Ein neuer Tag ist wie eine Drachenhöhle: Gefüllt mit endlosen Schätzen, Gefahren und Überraschungen. Wer will da nicht mit beiden Händen in den Truhen und Kisten wühlen, die Wunder bestaunen, die sich so offen darbieten? Ein jedes Wesen ist reich, so unsagbar reich, denn es besitzt sein Leben. Nutze es doch, will man da rufen …“
Zitat aus: „Der Ruf desKorabal“, Komödie von Shila von Erten
Avanya lag still auf dem Rücken und starrte an die Höhlendecke. Normalerweise dämpfte sie das Leuchten der Kristalle, die ihr als Lichtquelle dienten, wenn sie schlafen wollte, doch Eiven zuliebe hatte sie diese Nacht darauf verzichtet. Er litt trotzdem, da es nicht das Fehlen oder Vorhandensein von Licht war, sondern das beengende Gefühl der Felsen, das ihm zu schaffen machte. Sie spürte seine Ängste, er schlief ebenso wenig wie sie. Sein Herz klopfte laut, er bewegte sich unruhig, und immer wieder schreckte er hoch und starrte an die Wände, ob die sich womöglich auf ihn zubewegten. Er hatte ihr dieses Gefühl von Enge sehr anschaulich beschrieben; es war beinahe identisch mit ihrer Angst vor haltloser Weite, die sie an der Erdoberfläche spürte. Seine Unruhe war es allerdings nicht, was sie wach hielt, genauso wenig wie die Tatsache, dass ein fremder Mann eines feindlichen Volkes ihre Höhle teilte. Andernfalls hätte sie in Thamars Nähe keine Nacht geschlafen.
Aufgewühlt dachte Avanya über das nach, was Eiven ihr erzählt hatte, von der Aufgabe, die Niyam ihm gegeben hatte. Das war durchaus interessant, aber Avanya dachte mehr an das, was er nicht erzählt hatte. Der tiefe Schmerz, den sie in ihm spürte und weit über das hinausging, was ihm körperlich angetan wurde. Er hatte von seinem Halbbruder erzählt, der ihn mit vielen anderen zusammen fast zu Tode geschlagen hatte. In ihm brannte alter Schmerz, eine Narbe, die ohne Heil zu schwären begann, zusätzlich zu der orientierungslosen Verlassenheit, die von der plötzlichen Trennung von seiner Familie verursacht wurde. Und wie er sie angesehen hatte, als sie von ihrer eigenen Sippe erzählte, davon, warum sie allein und fern von ihrer Familie leben musste. Es hatte ihn nicht empört und mit Mitleid erfüllt wie Thamar, dass es ein solches Gesetz überhaupt geben konnte. Obwohl Thamar selbst von seiner Familie verraten,
gefoltert und verstoßen wurde, aufgrund eines Gesetzes, das keinerlei Sinn ergab, hatte er nicht begreifen wollen, warum Avanya nicht mehr nach Hause gehen durfte. Eiven hatte sie ohne Worte und Erklärungen verstanden, und das erschütterte sie mehr als alles andere.
Er versteht mich wirklich. Er weiß, warum meine Familie sich mit solchen Gesetzen schützen muss. Eiven versteht, was ein Clan ist, was es bedeutet, nur ein Teil eines großen Ganzen zu sein. Nicht so wie die Menschen, wo jeder Einzelne seinen Platz erst suchen muss. Er weiß, warum ich sie nicht dafür hasse, dass ich niemals darum kämpfen würde zurückkehren zu dürfen.
Dieser Loy, diese furchterregende Kreatur, Erzfeind aller Nola, stand ihr näher als die Menschen, mit denen das Kleine Volk sich traditionell verwandt und verbunden fühlte, auch, wenn man jegliche Nähe zu ihnen mied. Ob er möglicherweise … Avanya hielt bei diesem Gedanken den Atem an. Noch vor wenigen Stunden hätte sie darüber gelacht, an so etwas überhaupt zu denken, doch nun, nachdem sie zusammen mit Eiven das Fohlen gerettet hatte, schien es gar nicht so abwegig zu sein. Ohne weiter zu zögern setzte sie sich auf und schaute zu ihrem Gast hinüber. Der junge Loy lag dicht an der Felswand, direkt neben dem Ausgang. Mittlerweile hatte er sich so eng wie möglich zusammengerollt und barg sein Gesicht unter einem der mächtigen Flügel. Avanya hörte und witterte, dass er noch immer nicht schlief.
„Eiven?“, sagte sie leise. Er drehte den Kopf zu ihr, ohne sie anzusehen. „Würdest du mich mitnehmen? Mit nach Roen
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