Roen Orm 4: Herrscher der Elemente (German Edition)
siehst wenig von dem, was dieser Fluss wirklich bedeutet, du würdest den Verstand verlieren, wenn du erkennen müsstest, worin ich hineingeboren wurde. Selbst dieses schwache Abbild könnte dich allerdings zerstören, falls du es zu lange betrachtest.“
Verwundert streichelte er über ihre tränennassen Wangen. „Es gibt noch mehr als das?“, wisperte er voller Ehrfurcht.
„Aber ja, viel mehr! Das hier ist wirklich nur ein kleiner Ausschnitt des Gesamtmusters, ein Seitenarm von Enras Fluss. Ich lebe beständig in den Strömungen von Enra und Anevy, und halte dabei noch ein wenig die anderen Welten unter Beobachtung.“ Sie stellte sich hinter ihn und verdeckte seine Augen. „Ich lasse dich für einen Herzschlag das gesamte Muster erkennen, so, wie ich es sehe, ja? Nur diesen einen Moment, du bist schon lange genug an diesem Ort, um es ertragen zu können.“
Er nickte, versuchte sich innerlich zu wappnen für das, was kommen würde, doch es war unmöglich: Als sie ihre Hände wegzog, enthüllte sich etwas, das über jedes Begreifen hinausging. Purpurne und goldene Nebelspiralen kreisten umeinander, überall um ihn herum, durchzogen von gleißenden Strömungen. Die Lichtpunkte entfalteten sich zu unendlich vielen Lebewesen, er sah sie werden und vergehen, sah ihr Handeln, ihr Irren, ihre zahllosen Entscheidungen, die den gesamten Strom beeinflussten. Immer wieder setzte sich das Bild neu zusammen, pulsierte mal rascher, mal langsamer, ein Muster im ewigen Tanz, im Takt einer fernen Melodie.
Dann verglühte das Leuchten, und der Moment war vergangen. Thamar fand sich am Silberstrom wieder, in Maondnys Armen. Er weinte besinnungslos, überwältigt von all diesem Leben und seinem Schicksalstanz. Maondny wiegte ihn ein, streichelte sein Haar, flüsterte beruhigend auf ihn, bis er sich irgendwann gefasst hatte.
„Wie kannst du das alles nur ertragen?“, wisperte er.
„Die Götter haben mich beschützt. Sie verschleierten das Muster, führten mich Schritt für Schritt näher heran, bis ich bereit war, es zu erkennen.“ Sie zog ihn weiter, während sie sprach, durch die schwarze Unendlichkeit. Erst jetzt wurde Thamar bewusst, dass sie stromabwärts wanderten. Er hatte befürchtet, dass es eine Ewigkeit dauern würde, an den Anfang, die Quelle aller Dinge zu gelangen, doch nur wenige Schritte später hielt Maondny bereits an.
„Schließ die Augen. Wir sind angekommen und tauchen nun ein in eine Zeit, die schon lange vergangen ist.“
Willig ließ er sich führen. Es traf ihn wie ein Schlag, als plötzlich alle Sinne wieder zu Leben erwachten, er konnte hören – Wind, Fauchen und seltsame Laute, die ihn zutiefst verängstigten. Er konnte riechen – Rauch, feuchte Erde und zu viele fremdartige Eindrücke, um sie benennen zu können. Er fühlte Hitze, spürte den Boden unter seinen Füßen beben, und die Nähe von Kreaturen, die deutlich größer waren als er selbst. Unwillkürlich riss er die Lider auf und starrte auf ein Inferno.
„Was ist er?“ Das waren keine Worte, die Frage drängte sich als Flut von Bildern in sein Bewusstsein. Völlig erschüttert, zu betäubt, um noch Angst spüren zu können, wandte
Thamar den Blick von der Flammenwalze, die auf ihn zugerollt kam, und stellte sich der gewaltigen Kreatur, die sich hinter ihm befand.
23.
„Ruhe in Tis Armen. Möge der gütige Herrscher des Lichts sich deiner annehmen.“
Abschlusssegen der Ti-Priester für die Toten
Thamar spürte, wie der riesige weiße Vogel ihn studierte, in seinen Gedanken und Erinnerungen wühlte. Dies war kein Raubtier, das eine mögliche Beute anvisierte, obwohl es fast wie ein übermannsgroßer weißer Adler aussah.
„Zeige den Stein des Kindes!“, befahl der Vogel irgendwann. Thamar löste sich aus seiner Starre. Sofort kam ihm die Feuerwand wieder in den Sinn, und er fuhr herum. Die Flammen waren näher gekommen, doch langsamer als befürchtet.
„Hier ist es sicher. Der Zorn des Vulkans erreicht uns nicht. Zeig mir den Stein!“
„Gib ihm Avanyas Kristall, schnell!“, drängte Maondny. Thamar hatte beinahe vergessen, dass sie bei ihm war. Er zog den Kristallanhänger heraus, der wie ein Nola geformt war und hielt ihn dem Vogel hin.
„Maondny, wo sind wir? Wann sind wir? Was soll ich denn tun?“, stammelte er fassungslos, und betete, dass er nicht gegen dieses Geschöpf kämpfen musste. Der Vogel betrachtete den Kristall, ohne von Thamars Geist abzulassen; Erinnerungen flackerten durch
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