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Röslein rot

Röslein rot

Titel: Röslein rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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zu bedanken.
    »Weißt du eigentlich Genaueres über die Todesursache?« fragte ich nach dem Tabuthema in unserer Familie.
    Ellen sagte nach kurzem Überlegen, es habe sich doch - soweit sie sich erinnere - um den plötzlichen Kindstod gehandelt.
    Wenn man selbst Kinder aufgezogen hat, weiß man sofort, worum es geht. Babys zwischen dem zweiten und sechsten Lebensmonat liegen tot im Bettchen, ohne daß eine Krankheit vorausgegangen oder auch nur eine besondere Anfälligkeit zu bemerken gewesen wäre. Ich war leicht verwirrt. »Ellen, was du da sagst, kommt mir seltsam vor. Meine Mutter hat stets von einem Unfall gesprochen.«
    Da wir diese Unstimmigkeit nicht klären konnten, empfahl Ellen, ich solle meine Mutter doch einmal vorsichtig ausfragen. »Aber mal was anderes. Wann möchtest du mich besuchen? Ihr seid alle vier herzlich eingeladen! Ich habe Platz genug«, sagte sie.
    »Das ist lieb von dir«, sagte ich zögernd. »Vielleicht in den Schulferien.«
    Der Vormittag war fast vorbei, ich begab mich an den Herd. In meinem Kopf war ein ziemliches Durcheinander von Liebesbriefen, Hinterglasbildern, Mittagessen, der neugewonnenen alten Schwester und dem früh verlorenen kleinen Bruder. Sollte ich Reinhard mit einem verführerischen neuen Kleid beeindrucken? Hauteng?
    »Hättet ihr Lust, eure Tante Ellen zu besuchen?« fragte ich Lara und Jost bei Fischstäbchen, Ketchup und Pommes. Sie hatten bereits vergessen, wer das war.
    »Ach so, die graue Tussi, die mit der Schere die Nudeln schneidet!« meinte Jost.
    »Wenn Susi auch mitkommen darf«, bot Lara an.
    »Und Kai«, fügte Jost hinzu.
    Manchmal überschwemmt mich die Liebe zu meinen Kindern wie ein Sturzbach. Es gibt zwar Momente, in denen ich ihnen ganz gut den Hals umdrehen könnte; aber das ist Theorie, de facto krümme ich ihnen kein Haar. Dann wiederum muß ich sie plötzlich an mich drücken, herzen, küssen und vor Glück fast erdrücken. Jost ist das in höchstem Maße peinlich, aber auch Lara macht sich mit verlegenem Lächeln wieder frei. Reinhard ist solcher Überschwang fremd; in seiner Gegenwart versuche ich, meine Emotionen zu bezähmen. Wie froh wäre ich als Kind gewesen, wenn meine Eltern nur ein einziges Mal ein natürliches Gefühlsleben gezeigt hätten. In diesem Punkt ist Reinhard, obwohl er so zupacken kann, meiner Mutter gar nicht so unähnlich.
    Als ich mit hingebungsvoller Sorgfalt an Maltes Abbild arbeitete, traf mich die Liebe wie ein Blitz. Plötzlich empfand ich Nähe zu diesem kleinen Bruder, fast vergleichbar mit dem innigen Gefühl für meine eigenen Kinder. Seltsamerweise ließ ich die verstörte Imke gleich mit ein in mein weit geöffnetes Herz. Es ist ein Wunder, dachte ich, eigentlich müßte ich dieses Mädchen doch hassen. Was ich für sie aufbringe, ist mehr als Sympathie, es ist ein mütterlich-warmes Gefühl. Ich möchte sie beschützen und kann es nicht, ähnlich, wie ich meinem Bruder nicht mehr helfen kann.
    Auf meinem Bild bekam Malte einen von Mutters selbstgenähten Teddys in den Arm. Das stellte einen Anachronismus dar, da sie zu seinen Lebzeiten noch nichts von ihrem späteren Steckenpferd ahnen konnte. Das gesamte Bild sollte etwas Surreales erhalten. Gegenwart, Vergangenheit und Traum würden wie Aquarellfarben ineinanderfließen. Ich könnte zum Beispiel Reinhard eine von Vaters Fliegenklatschen in die Hand geben, um ihn eine kleine Biene erschlagen zu lassen. Mit seiner hohen Fistelstimme hörte ich ihn sagen: »Ha noi, du stichst jetzt nimmer!«

Vogelfrei

    Es war mir unangenehm, daß gerade jetzt meine Mutter ihren Besuch ankündigte. Ich mußte damit rechnen, daß sie die Spannungen zwischen Reinhard und mir spüren würde. Sicherlich erwartete sie nichts anderes, als daß es bei uns ebenso langweilig-träge zuginge wie früher in ihrer eigenen Ehe. Sie mochte Reinhard, sie liebte ihre Enkel, sie war der festen Meinung, daß ich eine glücklich verheiratete Frau sei. Ich hätte sie gern in diesem Glauben gelassen.
    Als ich sie vom Bahnhof abholte, sagte sie sofort: »Mäuschen, du wirkst glücklich!«
    Dabei hatte ich schlecht geträumt und zuwenig geschlafen, trug einen meiner bequemen skandinavischen Säcke (grau-dunkelbraun-beige gestreift) und hatte mir einen hartnäckigen Schnupfen eingefangen. Als einziger Farbfleck leuchtete meine rote Nase.
    Obwohl ich es Jost verboten hatte, begrüßte er sie mit den Worten: »Hoffentlich hast du mir keinen Teddy mitgebracht.«
    Sie fand seine Ehrlichkeit süß.

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