Röslein rot
zwar immer gern beobachtet, mit welcher Liebe er ein Stück Holz, einen Apfel oder einen anderen banalen Gegenstand berührte, aber ich hatte nie einen Zusammenhang zwischen dieser zärtlichen Materialhandhabung und seiner Sexualität erkannt. An diesem Abend begann ich mit Imkes Augen zu sehen: Die geheime Botschaft, von der sie sprach, wurde tatsächlich von Reinhard unabsichtlich ausgesendet, allerdings in einer subtilen, zarten Form, die einer besonders feinfühligen Art der Wahrnehmung bedurfte. Wessen Seismograph derart stark auf solche Schwingungen reagierte, der würde dem realen Leben fremd bleiben.
Als Reinhard am darauffolgenden Montag morgen etwas verblüfft mit der Zeitung hereinkam und einen hübsch verpackten Karton auf den Tisch stellte, verstand ich besser als er, was das zu bedeuten hatte. Das Geschenk auf seiner Motorhaube war ein duftender, frischgebackener Kuchen, genauer gesagt: Bienenstich.
»Deine Imke hat in dieser Nacht für dich gebacken«, sagte ich betroffen.
Reinhard holte sofort ein Messer und schnitt für jedes Familienmitglied ein Stück ab. »Hat doch alles sein Gutes«, sagte er. »Oder wolltest du am Ende auch diesen feinen Kuchen zurücktragen?«
Die Kinder zeigten sich beeindruckt. »Viel besser als von Mama«, sagte Jost.
Nun, als Diätassistentin mußte man ja Kuchen backen können. Wann schlief die liebeskranke Imke eigentlich? Immerhin hatte sie ihre einseitige Korrespondenz aufgegeben.
Endlich mit dem Bienenstich allein, konnte ich mir ein weiteres Stück, das wirklich erstklassig schmeckte, in den Mund schieben. Ich war verunsichert. Hatte Imke vielleicht durch ihren sechsten Sinn in Reinhard etwas zum Klingen gebracht, was ich übersehen hatte? Brauchte er mehr Bestätigung, Bewunderung, Verehrung? War er tatsächlich ein einsamer Prinz? Mangelte es mir selbst an Feingefühl, weil ich ihn nicht als zartbesaiteten Träumer sah?
Silvia lud uns bald darauf zum Essen ein, aus undurchschaubaren Gründen auch Lucie und Gottfried. Aus Faulheit und um sich nicht zu blamieren, hatte sie einen thailändischen Koch namens Toi engagiert, der eine Fülle leckerer Spezialitäten auf den Tisch brachte. Ich nahm mir gerade eine Scheibe Tintenfisch, der mit würzigem Hackfleisch, Zitronengras und kleingeschnittenen Limettenblättern gefüllt war, als mir der scharfe Bissen im Munde steckenblieb. Am anderen Ende des Tisches hielt Reinhard bewundernd eine zur Rose geschnitzte Tomate gegen das Licht und sagte: »Zum Dessert werde ich euch etwas Süßes vorlesen, das selbst einen zuckrigen Pudding übertrifft.«
»Meine exotische Obst sein ohne Zucker, nur mit Honigs widersprach Toi gekränkt.
Ich konnte Reinhard weder treten noch mit finsteren Blicken traktieren, denn er sah mich kein einziges Mal an, als er bei gebratener Banane, Melonenbällchen und Mangoscheiben Imkes Briefe herauskramte. Es waren aber weder drei noch vier, sondern mindestens zwanzig, die er offensichtlich ohne mein Wissen erhalten hatte.
Mein kleiner Prinz! Wie verlassen bist Du in der unendlichen Wüste des Universums; aber in der Oase meines Herzens erblüht ein Rosenstrauch für Dich, und jede Knospe enthält eine Perle von mir...
Silvia lachte schallend, Lucie verhalten, Udo verschluckte sich, Gottfried verließ den Raum.
Ich sagte mit schneidender Stimme: »Reinhard, ich halte es für den Gipfel der Geschmacklosigkeit, die Briefe einer Kranken zum besten zu geben!«
»Aber wir sind doch hier ganz unter uns«, sagte Silvia besänftigend, »kein Wörtchen von Imkes zarten Geständnissen wird an die Öffentlichkeit dringen! Es wäre doch ein Jammer, uns das vorzuenthalten!«
Udo hatte Tränen in den Augen vor Lachen: »O Gott, was für'n Quatsch!«
Nun schlug sich endlich Lucie auf meine Seite. »Reinhard, ich glaube, es ist verletzend für Anne, wenn du mit sichtbarem Stolz auf diese Liebesbriefe reagierst...«
Er war verärgert. Gewisse Menschen hätten eben keinen Humor; natürlich nähme er die überspannten Inspirationen einer spät Pubertierenden nicht ernst, er fühle sich auch nicht geschmeichelt. Aber das sei doch einfach köstlich.
Nach einer unguten Gesprächspause kam Gottfried wieder herein. Da er nicht als unhöflicher Gast gelten wollte, schenkte er allen die Gläser voll und plauderte mit den Männern über unverfängliche Dinge wie zum Beispiel Immobilienpreise. Silvia führte Lucie und mich ins Schlafzimmer, damit wir einen neuerworbenen Orientteppich bewunderten, den sie für
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