Röslein rot
Eigenschaften, zumindest solange ich es noch nicht mit Imke zu tun hatte.
Durch einen Krankenhausaufenthalt kannte Silvia die Stationsschwester der internistischen Abteilung, die sie gnädigerweise über die Diätassistentin Imke aushorchte: äußerst fleißig, unauffällig, freundlich, zuverlässig, eher introvertiert. Niemand hatte etwas gegen sie, keiner war näher mit ihr befreundet. Das half mir nicht weiter. Ich wollte Imke weder anschwärzen noch der Lächerlichkeit preisgeben; eher empfand ich es als verantwortungslos, den Ausbruch einer psychischen Krankheit als passive Zuschauerin zu beobachten.
Es trafen übrigens noch drei weitere Briefe ein, die ich alle ungeöffnet zurückbrachte. Um Reinhard nicht zu beunruhigen, vergaß ich es lieber, ihn darüber zu informieren.
Nach ihrem schriftlichen Mißerfolg erschien Imke leibhaftig, das heißt, sie saß eines späten Nachmittags regungslos auf den Steinstufen unseres Vorgartens. Ich entdeckte sie vom Fenster aus und wartete erst einmal ab. Als sie nach zwei Stunden immer noch dort saß, trat ich vor die Tür. »Imke, was wollen Sie denn wieder hier? Das hat doch keinen Sinn«, begann ich sanft.
»Ich warte auf Ihren Mann«, sagte sie, »er braucht mich!«
Reinhard brauche keine zweite Frau, sagte ich; die ungeöffneten Briefe, die sie zurückerhalten habe, seien doch Beweis genug dafür, daß er kein Interesse habe.
»Das haben Sie getan, und Sie haben kein Recht dazu«, sagte Imke etwas trotzig. »Ich bleibe hier sitzen, bis Reinhard kommt und ich ihm meine Briefe persönlich übergeben kann.«
Nun wurde ich patzig. »Verlassen Sie bitte unser Grundstück«, sagte ich. »Und belästigen Sie meinen überforderten Mann nicht mit solchem Kinderkram!«
Dies wirkte insofern, als Imke aufstand und sich auf der Straße postierte. Ich ging ärgerlich wieder hinein und versuchte, Reinhard im Büro anzurufen. Aber er war entweder auf einer Baustelle oder bereits auf dem Heimweg, ich konnte ihn nicht vorwarnen. Großzügig erlaubte ich den Kindern, sich den Krimi im Vorabendprogramm anzusehen, und lauerte nun meinerseits am Fenster.
Bald darauf fuhr Reinhard vor. Imke trat sofort an seinen Wagen heran, sprach durch das geöffnete Fenster auf ihn ein und übergab mit ernstem Gesicht ihre gesammelten schriftlichen Ergüsse. Kein Gedanke an ein mädchenhaftes Flirtverhalten, nicht der leiseste Zweifel an der Unerläßlichkeit dieser Aktion. Reinhard stieg aus und sprach mit ihr, allerdings nur wenige Sätze. Dann steckte er das Briefpäckchen in die Tasche seiner Lederjacke und reichte ihr mit väterlich-freundlichem Lächeln die Hand. Völlig falsches Benehmen, dachte ich wütend, er gibt ihr seinen Segen.
Aber ich kam nicht dazu, ihm Vorwürfe zu machen, er war schneller. »Das ist nicht fair«, sagte er. »Da diese Briefe an mich gerichtet waren, hättest du mich auf jeden Fall erst fragen müssen, bevor du sie zurückbringst. Du kannst meinen Entscheidungen doch nicht einfach vorgreifen!«
»Ich wollte dir ja bloß die Arbeit abnehmen, noch bevor du sie delegierst!« sagte ich unterwürfig, denn mein Gewissen war in diesem Fall nicht völlig rein.
Mein stets so müder Mann öffnete einen Umschlag nach dem anderen und las mit sichtlichem Wohlgefallen. Dann legte er alle drei Briefe fein säuberlich gefaltet in seine Brieftasche. »Zur Strafe kriegt meine kontrollbedürftige Frau kein Wort von diesen Blüten der Dichtkunst zu lesen«, sagte er.
Ich beteuerte, daß ich mir den Inhalt vorstellen könne und überhaupt nicht neugierig sei, aber daß er der verblendeten Imke einen Bärendienst erweise, wenn er in irgendeiner Form auf sie eingehe.
»Wenn du in ein paar Jahren von deiner akuten Eifersucht geheilt bist, wirst du dich über die Liebeslyrik der kleinen Biene kranklachen; es wäre ein Jammer, diese Briefe zu vernichten«, meinte Reinhard völlig unsensibel.
»Herrgott noch mal, kapierst du denn nicht, daß bei Imke eine Schraube locker ist! Du läßt dich als Prinz anhimmeln und bist in Wahrheit eine aufgeblähte Kröte, ein eingebildeter Hohlkopf...« Ich mußte nach Luft schnappen, so wütend war ich.
Daraufhin kam es zu einem handfesten Krach; die Briefe gab er mir nicht zu lesen.
Doch etwas anderes ging mir auf, als Reinhard seine pralle Brieftasche in böser Erregung immer wieder glattstrich. Er besaß eine mir bis dahin nicht bewußt gewordene Gabe, durch seine männlich-kräftigen Hände eine erotische Botschaft auszudrücken. Ich hatte
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