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Röslein rot

Röslein rot

Titel: Röslein rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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daß die sinnliche Vielfalt der Vögel und Früchte durch latente Trauer verdunkelt wird?
    Seit ich die Feinheiten auf alten Gemälden sehr genau betrachte, wird mir die Schönheit der realen Welt viel intensiver bewußt. Der glitzernde Tau auf einer hauchzarten Mohnblüte rührt mich derartig an, daß mir Tränen in die Augen treten.
    Meine Mutter nahm mich am nächsten Morgen ins Gebet. »Mäuschen, du mußt dich Reinhard gegenüber diplomatischer verhalten. Alles, was er sagt und tut, ist dir nicht recht!«
    »Was denn zum Beispiel«, fragte ich nervös.
    An seiner Arbeit ließe ich kein gutes Haar: Jedes Haus, das er gebaut habe, werde mit herber Kritik bedacht. »Männer müssen ein bißchen angebetet werden«, sagte sie so ernsthaft, als verrate sie mir das Geheimnis der Freimaurer.
    »Ich bin seine ebenbürtige Partnerin«, widersprach ich. »Welchen Sinn hat unsere Ehe, wenn ich ihm nur nach dem Mund rede? Er sagt mir schließlich auch, was ihm mißfällt.«
    »Wir Frauen können das eher vertragen«, behauptete sie, »aber doch keine männliche Mimose! Das Rezept meiner eigenen Ehe war, daß ich immer nachgab.«
    Wie schrecklich, dachte ich.

    Wahrscheinlich war es nicht der richtige Zeitpunkt, und doch erzählte ich meiner Mutter von meinem künstlerischen Familienprojekt. Zunächst war sie begeistert. »Auf was für Ideen du kommst! Papa, ich und Malte, du und Reinhard, eure beiden Süßen - das gibt sicherlich ein bezauberndes Bild! Hast du schon angefangen?«
    Ich ließ mich hinreißen und zeigte ihr sowohl den halbfertigen Malte hinter Glas als auch die Skizzen.
    Mutter setzte die Brille auf und fragte gutgelaunt wie in einem Ratespiel: »Wer bin ich?«
    »Die rechts neben Papa«, sagte ich und bemerkte zu spät, daß ihre Vorgängerin, Ellens Mutter, links neben meinem Vater stand. Sie stutzte. Ich mußte Farbe bekennen und von Ellens Besuch erzählen.
    Mutter regte sich furchtbar auf. »Annerose, du bist völlig unmöglich!« Am meisten schien sie zu beunruhigen, daß Ellen mich über die Familie ausgefragt hatte. Diese Person führe sicher nichts Gutes im Schilde!
    »Ellen ist gar nicht übel. Es ist doch im Grunde absurd, wenn man die eigene Schwester nicht kennt...«
    »Halbschwester«, verbesserte sie zornig.
    Wo wir schon beim Thema waren, konnte ich gleich in einem Aufwasch erzählen, daß man Ellen über Maltes Tod eine andere Version aufgetischt hatte als mir. »Was stimmt denn nun wirklich?« fragte ich, »Unfall oder plötzlicher Kindstod?«
    »Natürlich war es ein Unfall«, sagte sie.
    »Es gibt tausend Möglichkeiten, durch einen Unfall umzukommen. Warum redest du nie darüber? Was wird mir da seit vielen Jahren verschwiegen?«
    Da war es plötzlich um ihre Fassung geschehen. Sie weinte so sehr, daß es mir leid tat. Am liebsten hätte ich ihr zuliebe mein angefangenes Hinterglasbild zerstört und die bösen Ahnungen verdrängt. Muß man immer alles so genau wissen? Doch in diesem Moment fing meine Mutter endlich zu reden an und war nicht mehr zu bremsen.
    »Es ist ein Jahr vor deiner Geburt, am Ostersamstag, passiert. Papa fuhr mich mit dem Auto zum Einkaufen, ich habe ja leider nie den Führerschein gemacht. Wir brauchten Vorräte für die Feiertage. Malte saß hinten auf meinem Schoß, damals gab es noch nicht diese praktischen Kindersitze, auch Anschnallen war nicht vorgeschrieben. Als wir schließlich die überfüllten Geschäfte verlassen hatten, fiel deinem Vater ein, daß er den Tresorschlüssel im Büro liegengelassen hatte. Also fuhren wir noch ins Warenlager. Kurz und gut, als wir verspätet heimkamen, hatte ich nur eins im Kopf: endlich Fisch, Fleisch und Gemüse aus dem sonnenheißen Auto herausnehmen und in den Kühlschrank legen. Im allgemeinen trug Vater die Einkaufstaschen und ich deinen kleinen Bruder. Diesmal lief ich mit den Tüten schon mal voraus und ließ Malte auf der Rückbank sitzen; Papa mußte den Wagen noch in die Garage fahren. Während ich also die schweren Tüten zur Haustür schleppte, fuhr Vater rückwärts in die Einfahrt. Ohne daß wir es bemerkt hatten, war Malte herausgekrabbelt. Vater hat seinen eigenen Sohn, meinen kleinen Malte, totgefahren.«
    Geschockt und erschüttert hatte ich dies alles endlich erfahren. Doch die Tränen meiner Mutter waren mittlerweile versiegt, sie redete jetzt ohne Punkt und Komma. »Ich werde nie im Leben vergessen, wie dein Vater leichenblaß zur Tür hereinkam und unser totes Kind auf das Sofa legte. Später warf er mir

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