Röslein rot
teures Geld ersteigert hatte. Der Teppich diente als Vorwand, uns mehrere Kleider vorzuführen. Wir applaudierten aus Höflichkeit.
»Du solltest mehr aus deinem Typ machen«, empfahl sie mir in der ihr eigenen Gedankenlosigkeit, »du hast doch eine Traumfigur, warum steckst du immer in Säcken?« Silvia kicherte; ich meinte aus ihrem schadenfrohen Ton etwas herauszuhören, was ich bisher nicht an ihr gekannt hatte.
Als wir uns verabschiedeten, gab es die obligaten Küßchen. Die beschwipste Silvia schmuste etwas zu lange mit Reinhard, der es aber mannhaft ertrug. »Wenn du ein echter Märchenprinz bist«, raunte sie ihm zu, aber ich konnte es hören, »dann weißt du ja, daß man Dornröschen wachküssen muß.«
Ich hatte ausnahmsweise wenig getrunken, weil ich fahren sollte. Müde und böse wie ich war, wollte ich eigentlich kein Wort mehr reden, aber als ich vor einer roten Ampel anhalten mußte, zischte es aus mir heraus: »Du bist ein Schwein!« Reinhard stieg wortlos aus und ging zu Fuß nach Hause.
Am nächsten Morgen bestritt Reinhard alles. Er habe keine weitere Post von Imke erhalten, ich sei vor Wut blind geworden.
Jost, der unermüdlich auf der Straße spielte, hatte mir erzählt, daß Imke stets mit dem Bus um 18 Uhr von der Arbeit kam und dann auf dem Heimweg an unserem Haus vorbeilief. Diesmal war ich es, die sie abpaßte. »Sie haben mir doch versprochen, keine Briefe mehr zu schreiben«, begann ich.
»Nein«, antwortete sie fest, »wenn ich es versprochen hätte, dann würde ich es auch nicht tun. Aber niemand kann mir verbieten, täglich meinem Geliebten zu schreiben.«
»Haben Sie ihm die Briefe persönlich überreicht?« fragte ich.
Sie habe ihm die Post in seinen Bürobriefkasten geworfen, antwortete sie, um sicher zu sein, daß ich nicht wieder ...
Das Mädchen ist ehrlich, dachte ich, und irgendwie absolut anständig. »Imke«, sagte ich, »haben Sie schon einmal daran gedacht, daß Sie ärztliche Hilfe benötigen?«
Sie schüttelte den Kopf. Ich wollte meine Worte vorsichtig kommentieren, aber sie ließ mich stehen und ging.
Am Telefon fragte ich Lucie: »Findest du auch, daß ich keine Kleider, sondern Säcke trage?«
»Meine liebe Annerose, gefallen dir etwa die teuren Glitzerfummel, in die Silvia ihre Hüften zwängt? Du hast ein derart sicheres Farbempfinden, daß du tragen kannst, was du willst, es sieht immer originell aus.« Ich wußte nicht genau, ob das ein Kompliment war. Lucie trug prinzipiell nur schwarze Kleidung.
»Hast du mit Gottfried über Imke gesprochen?« Gottfried sei, da er selbst einen schizophrenen Bruder habe, was psychische Störungen anbelange, sehr empfindlich, sagte Lucie. »Was eure Imke betrifft - wahrscheinlich solltest du ihr einen Therapeuten suchen!« »Du bist gut! Das kann ich doch gar nicht.« »Na gut, dann laß sie weiter spinnen, das hält bestimmt nicht lange an. Und wenn sie dir allzusehr auf den Wecker geht, dann mußt du dich eben wehren. Du neigst dazu, die Dinge zu ernst zu nehmen.«
Diesen Satz konnte ich nicht mehr hören, weil Reinhard ihn täglich aussprach.
In Gottfrieds Buch folgte der Abhandlung über den Liebeswahn ein Kapitel über krankhafte Eifersucht. War ich am Ende genauso neurotisch wie Imke? Sie hatte etwas ins Rollen gebracht, was kaum noch aufzuhalten war.
Ich suchte Trost bei meiner Hinterglasmalerei. Mein Bruder Malte war der erste, der auf meinem Familienbild Gestalt annahm. Auf dem Foto, das meine Mutter geliefert hatte, trug er eine sommerliche Spielhose, in der man ein stattliches Windelpaket erahnen konnte. Ich beschloß, ihn in einen Matrosenanzug zu kleiden, der den Unterschied zur heutigen Generation besser sichtbar machte. Als ich Maltes kleines Gesicht unter der Lupe betrachtete, entdeckte ich eine gespenstische Ähnlichkeit mit Imkes kindlichen Zügen. Bei beiden waren es die weit auseinanderliegenden Augen in verträumtem Himmelblau, die mich mit Schauder erfüllten: »Nicht von dieser Welt«, sagte ich mir und hätte gern um den verlorenen Bruder geweint.
Als ich meinte, zehn Minuten mit Malen verbracht zu haben, waren zwei Stunden vergangen. Ich kannte dieses Phänomen bereits: Wenn ich in meine Bilderwelt eintauchte, verflog die Zeit auf irreale Weise wie im Märchen, gerann eine Ewigkeit zu Sekunden.
Hatte meine Schwester Ellen eigentlich Maltes Foto erhalten? In einer kleinen Malpause rief ich sie an.
Sie habe ihrerseits heute noch bei mir anrufen wollen, sagte Ellen, um sich für das Foto
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