Röslein rot
»Omi weiß, daß du nicht mehr mit Stofftieren spielst, Omi hat dir einen Drachen gebastelt.«
Beide Kinder rannten mit dem Drachen hinaus. Doch binnen zwei Minuten waren sie mit dem zerfetzten Lumpen wieder zurück. »Wahrscheinlich hat sie keinen Dunst von Aerodynamik«, urteilte Lara über ihre Großmutter.
Schon am nächsten Tag ging es Mutter schlecht. »Du bist schuld«, klagte sie. »Mein Rücken verträgt keine neuen Matratzen; warum habt ihr die alte ausrangiert, auf der ich fast so gut wie im kranken Bett geschlafen habe?«
»Mutter, es ist wirklich noch dieselbe Matratze«, sagte ich. »Wir haben gar nicht das Geld, um dauernd neue zu kaufen!«
Vermutlich übte ich selbst einen negativen Einfluß auf Mutters und Reinhards Befinden aus, denn ich war reizbar und zänkisch und fühlte mich miserabel. Als ich abends im Keller noch Wäsche aufhängen ging, trödelte ich absichtlich lange herum. Es tat mir so gut, mutterseelenallein zu sein.
Doch als ich wieder im Wohnzimmer eintraf, lief dort nicht etwa der Fernseher. Mutter und Reinhard saßen auf dem Sofa und lasen gemeinsam die aktuellsten Briefe von Imke. Ich verzog schmerzlich das Gesicht, aber die beiden ließen sich in ihrem heiteren Zeitvertreib nicht stören.
»Das ist richtig niedlich«, sagte meine Mutter, »was die Kleine so schreibt. Bißchen überkandidelt, aber wirklich süß.«
»Na, dann amüsiert euch weiter«, sagte ich, »aber ohne mich. Ich bin müde.«
Ich war schon an der Tür, als ich meine Mutter sagen hörte: »Was hat die Anne denn?«
Reinhard antwortete möglichst laut, damit ich es auch ja hörte: »Sie hat einen Vogel.«
Vögel werden gejagt; schon immer gab es Vogelfänger und Vogelsteller. Auf dem Stilleben von Christoffel van den Berghe, das 1624 entstanden ist, wird die Beute einer Jagdgesellschaft auf einem rustikalen Eichentisch präsentiert. Die Herren hatten wohl einen Ausflug zum Schilf- und Sumpfgürtel eines Sees unternommen, denn sie haben es auf Wasservögel abgesehen. Die Rohrdommel dürfte heute keinesfalls durch Menschenhand zu Tode kommen, doch damals war Natur- und Vogelschutz ein unbekanntes Wort. Während herbstlicher Treibjagden wurde alles erlegt, was vor die Flinte kam.
Die Stockente mit dem weißen Halsband wird dagegen heute noch auf dem Entenstrich geschossen. Gemeinsam mit Rohrdommel und Nonnengans bildete sie wohl den Höhepunkt einer festlichen Tafel. Besonders bei der Rohrdommel hat sich der Künstler alle Mühe gegeben, das duftige hellbraune Gefieder mit schwarzen und dunkelbraunen Sprenkeln, Streifen und Bändern anmutig auszuschmücken. Ihre grünlichen Beine und Füße ragen steif über die benachbarte Gans. Den Namen hat die Nonnengans durch ihre auffallende weiße Gesichtszeichnung bei schwarzem Kopf, Hals und Kröpf. Nun gut, die Jagd auf diese drei größeren Fleischlieferanten mag sinnvoll sein, aber was hat es mit den zahlreichen kleinen Singvögeln auf sich, die wohl aus Versehen ebenfalls den Tod gefunden haben? Rotkehlchen, Kohlmeise, Grasmücke und Gimpel waren anscheinend Nebenprodukte einer größeren Treibjagd und wurden ebenso gegessen und vorher zur Schau gestellt wie die Trauben und Pfirsiche im chinesischen Porzellanteller oder die roten Erdbeeren im verzierten Topf.
Angesichts der fetten Beute wird auf die prunkvollen Zinngeräte weniger Wert gelegt, sie schimmern blaß aus dem dämmrigen Hintergrund hervor.
In der vorderen linken Ecke liegt eine rosa Rose, ein Grund für mich, dieses Bild als mir persönlich zugeeignet anzusehen. Die abgebrochene Rose galt als Sinnbild der Vergänglichkeit, sollte aber auch als Gegensatz zu den düsteren Vogelleibern dienen.
Man bezeichnete Menschen, die keinen Schutz und kein Recht beanspruchen durften, als vogelfrei. Ebenso wie jeder Vogel gejagt werden konnte, so war auch ein vogelfreier Mann nirgends auf der Welt in Sicherheit. Zwar konnten Raubvögel, die hoch in der Luft ihre Bahnen ziehen, nicht ohne weiteres auf eine Leimrute gelockt werden. Aber auf dem barocken Vogelstilleben erscheinen liebenswerte kleine Sänger, die keinem etwas zuleide tun, den ganzen Tag fröhlich tirilieren und auch bei bester Zubereitung keinen Hungrigen satt machen können. Die Vogeljagd ist eine traurige Angelegenheit für eine tierliebende Zeitgenossin wie mich, doch vielleicht hätte auch ich mir in barocker Vergangenheit ein paar bunte Federn an den Hut gesteckt.
Ob der Künstler ebenfalls Mitleid empfand? Oder bilde ich es mir nur ein,
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