Röslein rot
überbringen, schließlich ist er ein Profi.«
Da war ich anderer Meinung und setzte mich durch, Silvia hatte ein Recht, die traurige Wahrheit von uns zu erfahren. Aber schon als ich mutig zum Hörer griff, plagten mich Skrupel, und ich jammerte: »Wie soll ich es ihr nur sagen? Kannst du das nicht besser als ich? Du bist immer so diplomatisch!« Meine letzten Worte waren glatt gelogen, aber ich sah bestätigt, daß Reinhard auf plumpe Schmeichelei hereinfiel.
»Gern tu' ich das zwar nicht«, sagte er, »aber dir zuliebe...«
Reinhard wählte die Nummer in Rhede; ich drückte auf die Lautsprechertaste, um mitzuhören. Silvia war selbst am Apparat. »Ich muß dir etwas sagen: Anne und ich sind gerade bei euch zu Hause«, begann er unbeholfen.
Aber sie schwätzte schon los: »Ihr seid wirklich lieb! Auf euch kann man sich verlassen! Wo war denn meine Brille?«
»Silvia, setz dich mal hin. Wir haben Udo tot im Bett gefunden.«
Reinhard schnaufte, Diplomatie fiel ihm schwer.
Silvia hatte ihn nicht verstanden. »Im Bett? Und ich dachte, sie läge auf dem Nachttisch«, plapperte sie. Aber dann: »Was hast du gerade gesagt?«
Schließlich übernahm ich den Hörer und beschwor Silvia, die Kinder bei ihrer Mutter zu lassen und die Bahn, nicht das Auto zu nehmen.
»Nein«, sagte sie, »ich brauche den Wagen zu Hause. Wir fahren sofort los. War der Arzt schon da? Dann macht ihm bitte das Tor auf, damit er direkt vors Haus fahren kann.«
Ich flüsterte Reinhard zu, er solle ihr noch einmal gut zureden und übergab ihm den Hörer. Dann lief ich zur Toreinfahrt.
Als wir wieder wartend im Wohnzimmer saßen, hatte Reinhard ausnahmsweise einen guten Einfall: »Weißt du was, ich geh' noch mal schnell nach oben und lasse die Zeitschrift verschwinden.«
Innerlich tat ich Abbitte, weil ich Reinhards Taktgefühl unterschätzt hatte.
Dr. Bauer kam bald, schüttelte uns die Hand und begab sich nach oben. Fünf Minuten später erschien er wieder und wühlte in seiner schweinsledernen Tasche nach Formularen. »Ich fülle den Totenschein aus«, erklärte er und schien einen Augenblick zu grübeln. - Später lasen wir die Diagnose: >Kammerflimmern? bei Herzrhythmusstörungen<. - »Er war noch viel zu jung!« sagte der Arzt bedauernd. »Zwar hat er mich oft zu den unmöglichsten Zeiten angerufen, wenn es ihm gerade schlechtging, aber leider ist er fast nie in meiner Praxis erschienen, um das EKG kontrollieren zu lassen; typisch für diese erfolgreichen Manager, daß sie sich chronisch überfordern und Warnsignale in den Wind schlagen! Die Familie fährt in den Urlaub, der Vater bleibt zu Hause und schuftet.«
Ich blickte mit schlechtem Gewissen zum urlaubsreifen Reinhard hinüber.
»Die Ursache der Tachyarrhythmie ist nie richtig abgeklärt worden«, überlegte Dr. Bauer, »vielleicht sollte man obduzieren. Aber dazu müßte sich seine Frau äußern.« Er verabschiedete sich eilig.
»Wir sollten jetzt auch nach Hause gehen«, sagte ich, »die Kinder warten.«
Während ich einen starken Kaffee braute, dachte ich über Silvia nach. Seltsam kühl hatte sie reagiert - aber gab es ein normales Benehmen bei einer so unerwarteten Todesnachricht? Jedenfalls hätte ich mich völlig anders verhalten.
Als das Telefon klingelte, war ich mir sicher, daß Silvia einen schweren Autounfall erlitten hatte und im Krankenhaus lag. Doch Reinhard, der abgenommen hatte, verlor kein Wort über Udos Tod, sondern wurde beinahe lebhaft: »Wir werden die Konkurrenz auf dem Euro-Markt noch zu spüren kriegen! Neunzigtausend Architekten arbeiten allein in Deutschland, in zehn Jahren kommen etwa dreißig- bis vierzigtausend dazu!«
Auf wen wollte er solchen Eindruck machen?
»Sandsteintränken? Kann ich besorgen, Mia«, sagte er abschließend.
»Reinhard«, begann ich und schenkte ihm Kaffee ein, »wir haben einen Fehler gemacht. Man hätte Udo sofort ins Leichenschauhaus bringen sollen, man kann doch Silvia nicht zumuten, daß sie mit den Kindern...«
Reinhard verstand meine Bedenken nicht. »Du hast doch auch gedacht, daß er bloß schläft«, argumentierte er, »ein absolut friedliches Bild. Die meisten Angehörigen wollen in Ruhe Abschied nehmen, das geht zu Hause besser als in einer Leichenhalle!«
Jost flitzte zur Tür herein. »Papa, Kai hat jetzt endlich einen Ohrring bekommen, ich will auch einen!«
»Kommt überhaupt nicht in die Tüte«, sagte Reinhard ärgerlich. »Das ist doch nichts für Buben!«
Ich schloß aus dem Kindertreffen,
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