Röslein rot
daß Lucie wieder aus dem Urlaub zurück war, und rief sie sofort an, um die Neuigkeit zu berichten.
Lucie regte sich auf. »Ich komm' schnell vorbei«, bot sie an und war zehn Minuten später bei uns. »Wie konntet ihr zulassen, daß sie mit dem Wagen fährt!« rief sie anklagend.
»Sie hat nicht auf mich gehört«, verteidigte ich mich, »sie brauche ihr Auto, hat sie behauptet!« Bei der Vorstellung, wie Silvia mitten in der Nacht mit heulenden Töchtern eintraf, die Treppe zum Schlafzimmer hinaufwankte und neben dem Toten schlafen mußte, kamen mir beinahe die Tränen. Ich bat Reinhard, beim Bestattungsinstitut anzurufen und den sofortigen Abtransport der Leiche zu verlangen. Er erwischte aber nur einen Anrufbeantworter - es war Sonntag abend.
»Wir sind ihre Freunde«, sagte Lucie, »wir müssen zur Stelle sein, wenn sie uns braucht. Gottfried kann wunderbar trösten, er soll in Silvias Haus auf sie warten. Wenn nicht einer von uns bei den Kindern bleiben müßte, würde ich es natürlich selbst übernehmen.«
Reinhard wollte so viel Güte noch übertreffen. »Laß man«, sagte er großmütig, »das übernehmen wir, das heißt, Anne sollte auch lieber zu Hause bleiben, sie hat schwache Nerven.«
Ich war erleichtert. Gegen elf verließen mich sowohl Lucie als auch Reinhard. Obwohl ich todmüde war, ging ich nicht ins Bett, denn ich war völlig überdreht. Also verrichtete ich allerhand unwichtige Hausarbeit, räumte in der Küche herum und begab mich mit dem vollen Müllsack auf die Straße. Außenbeleuchtung anmachen! dachte ich, denn Reinhard sollte bei seiner späten Rückkehr nicht im Dunkeln zur Haustür tappen. In der Mülltonne lag eine Zeitschrift, die nicht hineingehörte, denn ich trennte Glas, Papier, Biomüll und Haushaltsabfälle. Amüsiert zog ich Udos Herrenmagazin heraus, das Reinhard offensichtlich sofort weggeworfen hatte. So prüde war mein Mann, daß er sich die harmlosen Spielgefährtinnen gar nicht erst angeguckt hatte.
Unter der Zeitschrift lag eine Flasche, die wiederum in den Glascontainer gehörte. Gewissenhaft nahm ich sie ebenfalls heraus, aber diesen Grapefruitsaft hatte ich nicht gekauft. War es etwa die Flasche, die auf Udos Nachttisch gestanden hatte? Was hatte das zu bedeuten? Reinhard war in seinem Taktgefühl zu weit gegangen, wenn er Silvia nicht an Udos nächtliches Gluckern, über das sie sich früher einmal beschwert hatte, erinnern wollte. Ich tat die leere Flasche zum Glasmüll in den Keller und nahm mir die Zeitschrift mit ms Haus. So etwas lasen also gutbetuchte Herren über vierzig! Verwundert bemerkte ich, daß es nicht nur um nackige Mädchen, sondern auch um Motorboote, Drei-Sterne-Restaurants, Politik, Herrenmode und Börsentips ging.
Schließlich suchte ich mir den Autoatlas und sah nach, wo Rhede eigentlich lag und wie lange die Fahrt dauern mochte. Eigentlich mußte Silvia jetzt längst zu Hause sein. Wie lange braucht man, um einer trauernden Witwe Beistand zu leisten? Wann konnte ich mit Reinhards Rückkehr rechnen? Probeweise rief ich an, aber weder er noch Silvia oder eine der Töchter meldete sich.
Allmählich wurde mir die Vorstellung, wie Reinhard Trost spendete, immer unangenehmer. Andererseits würden sich zwei halbwüchsige Mädchen weinend an ihre Mutter klammern, da konnte Reinhard doch nicht gut... Ich verwarf meine argwöhnischen Gedanken, rief aber trotzdem ein weiteres Mal an, ohne daß in Silvias Haus der Hörer abgenommen wurde. Wo mochten sie gerade sitzen? Im Wohnzimmer oder am Totenbett? Auf einmal ärgerte ich mich über Lucie, die es zwar als barmherzige Pflicht ansah, Silvia in ihrer schweren Stunde beizustehen, sich aber ziemlich elegant aus der Affäre gezogen hatte.
Als der Morgen bereits dämmerte, konnte ich die Warterei nicht mehr ertragen. Ich zog mir Schuhe an, griff nach Handtasche und Autoschlüssel und machte mich auf, um Reinhard abzulösen und mit sanfter Gewalt nach Hause zu dirigieren. In wenigen Stunden hatte er einen Termin, er mußte dringend noch ein wenig ruhen.
Bittere Mandeln
Es erschien mir aufregend, so früh am Tag unterwegs zu sein, kaum ein Mensch war auf der Straße. Ich vergaß meine überreizte Unausgeschlafenheit und fühlte mich aus irgendeinem Grund beschwingt, froh, am Leben zu sein.
An der Bushaltestelle stand eine einsame Gestalt. Als ich näher kam, erkannte ich Imke. Also hatte man sie aus der Psychiatrie entlassen, Gott sei Dank! Wenn sie so zeitig am Tag auf den Bus wartete, schien sie
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