Röslein rot
eintreffen. »Ich muß heute bei Susi schlafen«, verkündete Lara, »ihre Eltern sind eingeladen, und sie graust sich allein. Oder darf sie zu uns kommen?«
Susi war ein überängstliches Einzelkind. Großmütig bot ich an, Lara nach dem Essen zu ihrer Freundin zu chauffieren. Die Idee kam mir gerade recht; dann würde ich mich in ihr Bett verkriechen. Gar nicht schnell genug konnte ich meine Tochter aus dem Haus schaffen und dem Sohn ebenso großzügig erlauben, sich einen Vampirfilm im Fernsehen anzuschauen.
»Wenn Papa kommt«, befahl ich, »sag ihm, daß ich heute in Laras Bett schlafe. Ich bin krank und brauche Ruhe.«
Jost sah mich verwundert an und nickte. Im Grunde saß er lieber in Gesellschaft vor der Flimmerkiste.
Wenn es aber sehr spannend werde und der Papa noch nicht da sei, sagte er, dann müsse er mich wecken.
Jost pflegte sich bei aufregenden Stellen ein Sofakissen vor die Augen zu drücken, »Rettet mich!« zu schreien und sich an einen Zipfel meines Kleides zu klammern.
Ich strich ihm übers Haar, wie ich es kurz zuvor bei Imke getan hatte, ging die Treppe hinauf und verschwand in Laras Zimmer. Es war gerade erst acht.
In Laras kleinem Reich herrschte meistens Unordnung. Ich schlüpfte in ihr Bett, roch den zarten Duft nach Kinderhaar auf dem Kopfkissen, knipste das Lämpchen an und betrachtete mir das Ambiente aus der allabendlichen Sicht meiner Tochter. Das Bett war in eine Nische eingepaßt. Über dem Fußende hatte Reinhard ein Bord angebracht, auf dem vier Teddys aus Mutters Werkstatt wohnten. Zwei Bärinnen im Dirndlkleid namens Barbie und Nicole und die Bärenbuben Seppi und Ken. Seppi trug doch tatsächlich Stiefel und Reithosen. Sofort begann es in meinem Kopf schmerzhaft zu pochen.
Aber ich hatte kaum Ruhe, meinen finsteren Gedanken nachzuhängen, da kam Jost hereingestürmt und schlüpfte zu mir. »Hilfe! Knoblauch!« japste er, schmiegte sich wohlig an mich und bleckte mit der Forderung: »Ich will dein Blut, ich bin Graf Dracula!« einen letzten Milchzahn. Als wenig später die Haustür knarrte, vergaß Jost sofort seine unheimliche Aufgabe und sprang wieder aus dem Bett, um den Vater zu begrüßen.
Natürlich knipste Reinhard als erstes den dröhnenden Fernseher aus. Ich schlich an den Treppenabsatz und lauschte. Viel konnte ich nicht hören; Jost erzählte von Transsilvanien, als wäre er gerade selbst dort gewesen.
»Wo ist Lara? Und die Mama?« fragte Reinhard. »Lara ist bei Susi«, antwortete Jost, »Mama schläft!«
Offenbar ging Reinhard in die Küche, um sich ein Brot zu schmieren, denn aus dem Wohnzimmer vernahm ich erneut vampirische Geräusche. Vorsichtshalber machte ich das Licht aus. Trotz aller Befürchtungen war ich bald eingeschlafen, viel früher als üblich; bei mir wirkt allein der Umstand, in einem Bett zu liegen, oft Wunder.
Als ich wach wurde, wußte ich anfangs nicht, wo ich mich befand. Der schwache Schimmer vom Fenster kam von der falschen Seite, ich ertastete den Schalter. Es war zwölf, Geisterstunde. Sofort löschte ich die Lampe wieder, denn Reinhard sollte mich - wenn er denn auch wach wurde - für tief schlafend halten. Als ich einige Minuten später auf die Toilette schlich, bemerkte ich Licht im Schlafzimmer. Zu meinem Befremden hörte ich Reinhards abgeschwächte Piepsstimme. Demnach war er nicht allein.
»Sie schläft fest, und das bereits seit Stunden, du brauchst keine Bedenken zu haben«, sagte er. Pause. »Krank? Na ja, der Saft hat vielleicht eine Langzeitwirkung.«
Wie wichtig wäre es jetzt, Silvias Antwort zu hören, aber sie flüsterte wohl nur. Als Reinhard lange stumm blieb und ich schon dachte, sie würden sich jetzt lieben, setzte er wieder an: »Vielleicht hast du recht. Inzwischen glaube ich dir ja alles! Aber wenn es so ist, dann wird sie sehr unglücklich sein. Wahrscheinlich hat sie Udo geliebt, sonst kann ich mir das Ganze schon gar nicht erklären.« Es kam mir fast so vor, als würde mich Reinhard verteidigen.
Erst gegen Morgen schlief ich wieder ein, denn es ging über mein Fassungsvermögen, daß sich Silvia nachts in meinem Bett breitmachte.
Nach wenigen Stunden wurde ich abrupt und rabiat geweckt. Reinhard hatte die Fenster aufgerissen und herrschte mich an: »Willst du deine Kinder verhungern lassen?«
Völlig desorientiert öffnete ich die Augen. Es dauerte sekundenlang, bis ich begriff, daß es Laras Bett war, in dem ich lag. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, daß es bereits neun war; Reinhard hätte
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