Röslein stach - Die Arena-Thriller
diesem Tisch gefeiert worden, wie viele hitzige Diskussionen waren hier geführt und wie viele Anekdoten und Witze zum Besten gegeben worden! Auch einige Küchenmöbel erkannte er wieder. Der Sprung in der Scheibe des Schränkchens über der Spüle war entstanden, als Sonja eine Tasse nach ihm geworfen hatte. Warum, wusste er nicht mehr, aber es hatte nie viel gebraucht und sie konnte so herrlich wütend werden. Er hatte das geliebt, dieses Temperament. Er stieg die Treppe hinauf, das Holz abgetreten von Hunderten von Schuhsohlen.
Damals, als sein Vater gestorben und seiner Mutter das Haus zu groß geworden war, war die erste Studentengeneration hier eingezogen…
Von den Möbeln des Schlafzimmers seiner Eltern war nichts mehr vorhanden. Die waren schon weg gewesen, als er vor jetzt mehr als zwanzig Jahren wieder in sein Elternhaus zurückgekehrt war. Nicht aus nostalgischen Gründen, er brauchte Leben um sich, junge Menschen, Musik, Gespräche… Er hatte sich seinen deutlich jüngeren Mitbewohnern angepasst und sich mit Billy-Regalen umgeben, ähnlich wie der junge Mann, der den Raum jetzt bewohnte. Er schien sich für die Probleme der Welt zu interessieren, unter seinen Büchern befand sich viel Philosophisches und Weltverbesserungsliteratur. Ein großer Bildschirm stand auf dem Schreibtisch. Faszinierend, diese Kommunikationsmöglichkeiten heutzutage! Er und Sonja hatten sich noch Zettelchen geschrieben.
Das Zimmer des anderen Jungen sah ähnlich aus. Ein paar Modellflugzeuge standen im Regal, sonst viele Fachbücher. Er betrachtete es nur kurz und eher gleichgültig. Sein Kinderzimmer. Nein, es waren keine »unbeschwerten Kindertage« gewesen, wie es das abgenutzte Klischee wollte. Der überaus komplizierte, problembehaftete Lebensabschnitt des Heranwachsens wurde von der Erinnerung allzu gern in ein verklärendes Licht gerückt und erschien einem immer erst aus der Sicht des Erwachsenen unbeschwert. Aber eines war in seiner Kindheit wirklich schöner gewesen: Hier, am Fuß des Berges, hatte noch Ruhe geherrscht. Er war zehn gewesen, als 1961 der Westschnellweg gebaut wurde. Vorher hatte man zu jeder Zeit die Amseln singen gehört und die Nachtigallen.
Im Zimmer des dunkelhaarigen Mädchens betrachtete er wenig später milde lächelnd die jungen Machos mit den Sixpacks und den Kindergesichtern, die ihn von den Wänden herab dümmlich-arrogant anblickten. Eine Bluse hing über der Bettlade. Vorsichtig, fast zärtlich, nahm er sie hoch und vergrub seine Nase darin.
Das Mädchen mit den rötlichen Haaren roch sogar noch besser, das erkannte er wenig später, als er sich in deren Zimmer umsah. Der Duft, der ihrem T-Shirt förmlich entströmte, erinnerte ihn ein ganz klein wenig an Sonja. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.
Als Antonia und Katie nach Hause kamen, standen Robert und der fremde Mann im Garten.
»Herr Petri wird das Beet wieder bepflanzen«, verkündete Robert strahlend. Er war im Frühjahr auf die Idee gekommen, auf Selbstversorgung umzusteigen und Gemüse und Salat anzubauen. Doch Unkraut, Ungeziefer, Schnecken, ein trockener April und vermutlich auch Roberts Mangel an Wissen und Einsatz bei der Pflege des Beetes hatten dazu geführt, dass die vor ihnen liegende Fläche eher einem überdimensionierten Katzenklo glich als einem Gemüsebeet. Herr Petri, der einen Spaten in der Hand hielt, warnte ihn: »Erwarte nicht zu viel. Die Saat- und Pflanzzeit ist schon lange vorbei.«
»Katie und Antonia«, stellte Robert die Mädchen vor. Der Gärtner nickte ihnen zu. Das Auffälligste in seinem Gesicht waren die Augen: ein tiefes Blau und ein Blick, so intensiv wie ein Röntgenstrahl.
»Hallo«, sagten Katie und Antonia wie aus einem Mund. Sie sahen sich an und fingen an zu kichern. Noch immer kichernd wandten sie sich um und trugen Antonias Einkäufe ins Haus.
»Hühner«, bemerkte Robert und sein Gegenüber lächelte nachsichtig.
6.
Antonia probierte ihre neuen Sachen alle noch einmal an und betrachtete sich dabei in dem Spiegel, der an der Innenseite der Kleiderschranktür klebte. Sie hätte wirklich nicht so zuschlagen dürfen beim Shopping. Sie musste noch Schulbücher kaufen und ein paar Möbel wären auch nicht schlecht. Man konnte zwar gut auf einer Matratze schlafen, aber einen Schreibtisch würde sie schon brauchen, und vielleicht ein Regal. Am Montag musste sie unbedingt zu ihrer Mutter fahren, damit sie den BAföG-Antrag unterschrieb. Hoffentlich dauerte es bis zur ersten
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