Röslein stach - Die Arena-Thriller
sehen. Es imponierte ihm, dass sie sich trotz ihres hohen Alters und etlicher Gebrechen nicht gehen ließ. Sie empfing ihn stets ordentlich gekleidet, sorgfältig frisiert und nach Lavendelseife duftend. Auch ihre Wohnung war immer aufgeräumt und müffelte nicht. Da gab es ganz andere… Heute würde er sich allerdings nicht lange mit ihr unterhalten können, dachte Robert, als er nun schon zum dritten Mal klingelte. Er wollte ja noch mit Antonia aufs Land fahren, um zu sehen, was an der Geschichte mit dem Dynamit dran war.
»Nun mach schon, komm in die Gänge«, murmelte er ungeduldig. Er war es gewohnt, dass seine Kundschaft manchmal lange brauchte, um ihm die Tür zu öffnen, aber jetzt stand er schon mindestens seit zwei Minuten da, in der Hand den Styroporkarton mit den Putenbrustfilets auf Lauchgemüse. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Er drückte auf die anderen Klingeln, der Türöffner schnurrte, er betrat den Hausflur und klingelte Sturm an Frau Riefenstahls Wohnungstür. Keine Reaktion. Vielleicht war sie eingeschlafen? Was, wenn sie tot war? Sollte er jetzt die Feuerwehr rufen, damit die die Tür aufbrach? Aber vielleicht lebte sie noch, vielleicht brauchte sie dringend Hilfe… Es war eine schöne alte Tür, mit Schnitzereien und einem bunten Glasfenster im oberen Teil, typisch für Altbauten aus der vorigen Jahrhundertwende. Solche Türen hatten oft nur lausige Schlösser, das müsste zu schaffen sein.
Er stellte den Essensbehälter auf der Treppe ab, nahm drei Schritte Anlauf, für mehr war kein Platz, und rannte mit der linken Schulter voran gegen die Tür. Das Schloss sprang tatsächlich auf und Robert schlidderte in den Flur.
Frau Riefenstahl saß im Wohnzimmer in ihrem Sessel vor dem kleinen Tisch, auf dem sie immer ihr Mittagessen einzunehmen pflegte. Sie war gekämmt und vollständig angekleidet – dunkle Hose, helle Bluse, geblümte Weste. Es sah aus, als wäre sie gestorben, während sie auf ihn gewartet hatte. Sogar das Besteck lag schon bereit. Ihre Arme hingen schlaff neben den Sessellehnen und ihr Unterkiefer war herabgesunken, was ihr einen dämlichen Gesichtsausdruck verlieh und Robert zornig machte: darüber, dass der Tod der alten Dame auf diese Art die Würde raubte. Ihre Augen starrten glasig ins Nichts, die Lesebrille war neben dem Sessel auf den Boden gefallen. Das Ticken der Standuhr war das einzige Geräusch im Zimmer. Robert schluckte. Er hatte noch nie einen toten Menschen gesehen, und obwohl er insgeheim mit Schlimmerem gerechnet hatte, war der Anblick dennoch ein Schock. Oder vielleicht nicht der Anblick, aber die Anwesenheit des Todes, die er förmlich zu spüren glaubte. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und wählte den Notruf.
Dann wartete er, denn der Arzt wollte sicher wissen, wie er sie gefunden hatte. Noch einmal näherte er sich der Toten. Er hatte das Gefühl, ihr etwas sagen zu müssen, irgendwelche Abschiedsworte. Aber ihm fiel nichts ein. Er war nicht religiös, eher das Gegenteil. Religion, egal welche, so seine Überzeugung, brachte die Menschheit nicht weiter. Wie viele Kriege gab es wegen unterschiedlicher Religionen, wie viel Hass? Und an einen »lieben Gott« glaubte er nun wirklich nicht. Er wusste auch nicht, ob Frau Riefenstahl gläubig gewesen war. Wenn ja, so hatte sie jedenfalls nie darüber gesprochen. Trotzdem schien ihm ein Gebet irgendwie angebracht.
»Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln…«
Obwohl der Konfirmandenunterricht schon eine Weile her war, kamen ihm die Worte ganz automatisch über die Lippen. Danach fühlte er sich besser. Er beschloss, draußen auf den Notarzt zu warten, und warf einen letzten Blick auf Frau Riefenstahl. Dabei bemerkte er das Buch, das auf ihrem Schoß lag. Es war kein Roman, eher so etwas wie ein Notizbuch, schwarz eingebunden und ungefähr so groß wie ein Schulheft. Ein Fotoalbum? Zögernd näherte sich Robert noch einmal dem Leichnam. Es kostete ihn große Überwindung, fast fürchtete er, sie könnte sich plötzlich doch noch bewegen und ihn selbst zu Tode erschrecken.
Mit allergrößter Vorsicht, als würde er ein riskantes Manöver bei einem Mikadospiel ausführen, nahm Robert das Buch an sich. Er schlug es auf. Es war eng mit blauer Tinte beschrieben. Wahrscheinlich ein Tagebuch. Was sollte er nun damit machen? Was passierte überhaupt mit den ganzen Sachen? Wahrscheinlich gingen sie an irgendwelche wohltätigen Einrichtungen, und was nicht mehr zu gebrauchen war, wanderte auf den
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