Röslein stach - Die Arena-Thriller
Müll. Soviel Robert aus ihren Erzählungen wusste, hatte die alte Dame keine direkten Erben. Ihre Tochter Ingrid war vor einem Jahr an Krebs gestorben, das hatte sie ihm erzählt, ihr Foto stand auf der Anrichte. Und deren Tochter Sonja, ihre einzige Enkelin, war angeblich ermordet worden – und zwar im Dachzimmer des Hauses, in dem er jetzt lebte. Dieses Detail der Mörderzimmer-Geschichte hatte Robert seinen Mitbewohnern bis jetzt verschwiegen, vor allen Dingen deshalb, weil er selbst nicht so recht daran glaubte. Die ganze Geschichte war ihm immer reichlich obskur erschienen und er war bis heute nicht sicher, ob sich die alte Dame da nicht etwas zusammengesponnen hatte.
Er klappte das Buch zu und sah sich um. Es waren keine teuren Kostbarkeiten, mit denen sie sich umgeben hatte, aber dennoch schmerzte Robert der Gedanke, dass die Bilder, die Vasen, das Geschirr, die Kleidung – all die Dinge, die Frau Riefenstahl Tag für Tag angesehen oder benutzt hatte, bald im Sozialkaufhaus oder auf dem Flohmarkt landen würden. Niemand würde mehr wissen, wem sie gehört hatten und welche Erinnerungen an den einzelnen Gegenständen hingen. Sie waren einfach nur noch alter Plunder. Aber wenigstens ihr Tagebuch sollte nicht in fremde Hände gelangen oder womöglich ins Altpapier geworfen werden. Das hat sie nicht verdient, dachte Robert, und als er jetzt Schritte im Hausflur hörte – der Notarzt –, steckte er das Buch schnell in seinen Rucksack.
»Wir können es auch verschieben«, sagte Antonia. Sie saßen in der Küche. Robert, das Gesicht noch bleicher als sonst, rauchte schon die zweite Zigarette zur ersten Tasse Kaffee. Seine Hände zitterten ein wenig. »Nein, geht schon.«
»Man findet ja nicht jeden Tag eine Leiche. Tut mir leid für dich.«
»Muss es nicht«, wehrte Robert ab. »Sie sah gar nicht schlimm aus. Ich hatte noch Glück im Unglück, sie hätte ja auch schon seit Freitag daliegen können und dann wären die Fliegen…«
»Ich kann es mir vorstellen«, unterbrach Antonia. »Immerhin hatte sie ja ein sehr langes Leben und einen schönen Tod.«
»Woher willst du wissen, ob ihr Tod schön war?«
»Zumindest hat sie nicht wochenlang in einer Klinik an Schläuchen gehangen.«
»Auch wieder wahr«, gab Robert zu. »Dann lass uns mal aufs Land fahren. Bisschen Abwechslung schadet jetzt vielleicht nicht.«
Wenig später saßen sie in Matthias’ altem Polo und fuhren aus der Stadt hinaus. Die Kornernte hatte begonnen, die ersten Mähdrescher fuhren in riesigen Staubwolken über die Felder.
»Und, wie war das Leben hier so?«, fragte Robert.
»Beschissen«, antwortete Antonia wahrheitsgemäß. »Was glaubst du, warum ich so schnell wie möglich da wegwollte?«
Antonia knetete ihre Hände, sie war nervös. Hoffentlich unterschrieb ihre Mutter den Antrag, ohne Schwierigkeiten zu machen. Nach dem Anruf von Ralph neulich musste sie auf alles Mögliche vorbereitet sein. Sie hatte es heute Morgen nicht gewagt, anzurufen und ihren Besuch anzukündigen.
»Ist diese Sarah eigentlich deine Freundin?«, hörte sie sich plötzlich sagen und fragte sich gleichzeitig, was bloß in sie gefahren wäre.
Robert warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. »Wie kommst du darauf?«
»Könnte doch sein. Sie ist hübsch…«
»Ich kenne sie schon ewig.« Diese Antwort ließ Antonia innerlich frohlocken, aber die kalte Dusche kam postwendend: »Ich will zurzeit überhaupt keine Freundin. Ich weiß nicht, wo ich in einem Jahr sein werde, also ist das im Moment kein Thema.«
»Aha«, machte Antonia und meinte skeptisch: »Und du denkst, das lässt sich so einfach steuern.«
»Ja, klar«, sagte Robert.
»Aber wenn du dich trotzdem verliebst…«, wandte sie ein und befahl sich gleichzeitig, jetzt endlich ihren Mund zu halten.
Robert verdrehte die Augen. »Typisch! Mädchen und ihr Traum von der ewig währenden romantischen Liebe.«
»Ja und? Was ist falsch daran?«
»Sie ist eine Utopie. Die romantische Liebe, von der die meisten Leute träumen, ist etwas, das nur zwischen zwei Buchdeckeln existiert oder in Filmen. Und da gehört sie auch hin. In der Realität funktioniert sie nicht. In der Realität wird Liebe wie eine Ware gehandelt: ›Schau her, ich bin der beste Partner für dich, weil ich dies und jenes habe, was die anderen nicht haben.‹ Bei Kerlen ist das im Allgemeinen ihr Status und ihr Geld, bei den Frauen ihr Aussehen. Und um das zu bekommen, muss man laufend Kompromisse eingehen, sich selbst verleugnen und
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