Roland Hassel - 14 - Piraten
daß ich mich auf die neuen Umstände nicht einstellen konnte. Man hatte mir eine Nacht gestohlen, na gut, das verbuchte ich unter Mundraub. Aber jetzt ging es um mehrere Wochen des einzigen armen Lebens, das ich hatte – das war wie schwerer Diebstahl.
Nahm ich Medikamente? Ja. Welche Sorten brauchte ich und wo lagen diese? Im Küchenschrank der Wohnung, in der ich als freier Mann gelebt hatte. Man würde sie holen lassen, ebenso alles Notwendige für meine persönliche Hygiene. Ovengren kam in die Zelle und roch nach Zufriedenheit.
»Sagte ich nicht, daß ich dich kriegen würde, verdammter Hassel? Jetzt habe ich alle Zeit der Welt, die Wahrheit aus dir herauszuholen.«
Ich konnte nicht antworten; ich war auf dem Weg in ein dunkles Loch.
»Du wirst nach Gävle gebracht.«
»Nach Gävle? Warum?«
»Wir sind dabei, deine Bande auszuheben und auf verschiedene Gefängnisse zu verteilen. Wir gehen kein Risiko ein.«
Eine Stunde später saß ich in einem Wagen, der mich in die Provinzmetropole brachte. Diesiges Wetter, ab und zu ein Nieselschauer, herbstlich gefärbte Blätter, endlose Kiefern- und Fichtenwälder. Und Ortschaften mit Menschen, die sich frei bewegen konnten. Dalälven, die Einfahrt in die Stadt, das Polizeigebäude, Ablieferung von Hassel, Registrierung seiner Siebensachen, rein in die Zelle, Essen durch die Luke, auf der Pritsche hocken, an die Wand starren.
Kein Radio, kein Fernseher, keine Zeitungen, kein Besuch, keine Gespräche außer mit dem Anwalt und den Wärtern. Nur eine Bibel leistete mir Gesellschaft, aber ich war nicht in der Stimmung, mich mit Religion zu beschäftigen. Ich war überhaupt nicht in Stimmung. Minuten verschwanden in Stunden, Stunden bildeten Tage, und mein Blick wurde immer leerer. Täglich durfte ich sechzig Minuten über den Hof spazieren, wenn ich wollte. Aber ich wollte nicht. Wozu den Körper anstrengen? Ich hatte doch meine Wand.
Ovengren kam jeden Tag, um mich zu verhören, aber ich ignorierte seine Fragen. Ich bat ihn nur, sich zur Hölle zu scheren; mehr hatte ich ihm nicht zu sagen. Möglicherweise zeigte sich Lundh ab und zu, aber ich war nicht sicher, ob seine Besuche wirklich stattfanden oder zu den Alpträumen gehörten, die mich wie schleimige Krakenarme umfingen, wenn ich einnickte.
Wenn ich zur Toilette oder zur Dusche mußte, schrie der Wachhabende ›Gang frei!‹, und alle Mitgefangenen beeilten sich, in ihre Zellen zu eilen, damit sie ja nicht mit mir in Berührung kamen. Zum Aussätzigen fehlte mir nur noch das Warnglöckchen; ich gehörte nicht mehr zur menschlichen Gemeinschaft. Ich war geächtet und ausgestoßen.
Durch einen Irrtum des Verkäufers wurde eines Tages der Zeitungswagen in meine Zelle geschoben. Ob ich eine wollte? Ja, alle, rief ich. Sofort kamen die Wärter angerannt. Er hat besondere Restriktionen, er darf keine Zeitung bekommen, schrien sie. Bitte, bitte, wenigstens ein Wochenblatt … Nein, keine Zeitung bedeutet keine Zeitung. So blieb mir wieder nur die Bibel, aber die lockte immer weniger.
Eines Nachts überkam mich der Gedanke, ich könnte tatsächlich schuldig sein. Vielleicht hatte ich wirklich geschossen und das Geschehene nur verdrängt, hatte die Maske über das Gesicht gezogen und rücksichtslos auf die Leute gefeuert? Hatte mich das Geld dazu getrieben? Ich mußte etwas verbrochen haben, sonst hätte man mich nicht eingesperrt. Das schwedische Rechtssystem kann sich nicht irren. Also war ich ein Mörder … Es gelang mir, den Gedanken abzuschütteln, doch er kam mir immer wieder in den Sinn. Langsam fing ich an, an meiner Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln.
Ich wunderte mich, warum ich Erbsen und Eierkuchen, unser traditionelles Gericht für den Donnerstagabend, an einem Freitag serviert bekam. Es sei ja Donnerstag, behauptete der Wärter. Unmöglich, erwiderte ich, doch ich hatte mich geirrt, um einen ganzen Tag. Da erwachte ich aus der Lethargie. Verdammt noch mal, ich war unschuldig! Keiner würde mir mein Leben stehlen!
Ich forderte einen neuen Anwalt. Bald würde erneut über meine Untersuchungshaft verhandelt werden, und zu Claes Lundh hatte ich kein Vertrauen. Ein Name fiel mir ein, Donald Tagesson. Ich wußte, daß er einen anderen Polizisten verteidigt hatte, der wegen Mißhandlung angeklagt war. Zum Ärger Ovengrens übernahm er meinen Fall. Tagesson war ein Jurist, dem Lundh nicht das Wasser reichen konnte. Er nahm an den Verhören teil und verlangte, die Tonbandprotokolle lesen zu dürfen, die nach
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