Roland Hassel - 14 - Piraten
Mangel an Stempeln aus Ländern, die sich noch die Mühe machten, welche zu verteilen. Falls jemand, der Johnny kannte, den Paß in die Hand bekam, würde er den Betrug bemerken, aber die Gefahr war nicht sehr groß. Eine gewisse Ähnlichkeit war in jedem Fall vorhanden.
»Brauche ich keinen besonderen Seemannspaß?« fragte ich.
»Das war einmal. Heute sind alle Angaben in der EDV erfaßt. Hier hast du einen Seesack, wie er von vielen immer noch benutzt wird. Darin sind typische Kleidungsstücke, wie sie von Seeleuten getragen werden. Hier ist eine Aufstellung dazu. Zieh dich um, bevor du nach Norsborg fährst. Nimm die U-Bahn; hier ist der Wohnungsschlüssel. Denk immer daran, du bist Odler. Also tritt entsprechend auf; jemand könnte dich dort erwarten. Ich lasse regelmäßig von mir hören. Hier sind seine Brieftasche, der Führerschein und einige persönliche Papiere. Das war es dann wohl. Die Schule ist aus; Zeit fürs Examen!«
Ein wenig feierlich streckte er die Hand aus:
»Viel Glück, kann man da nur sagen. Nutze diese einmalige Chance für uns, Rolle. Eine neue werden wir im Leben nicht bekommen.«
Auf der Fahrt nach Norsborg schlüpfte ich in die Haut Johnny Odlers und versuchte, mit meinem Auftreten seinem Charakter zu entsprechen. Schweigsam, schroff, ein wenig unbeholfen, keine geistige Leuchte, aber gerissen, wenn es um den eigenen Vorteil ging, so stellte ich ihn mir vor. Johnny Odler hatte es satt, für wenig Geld zu schuften, doch Aufstiegsmöglichkeiten waren bisher nicht zu erkennen gewesen.
Vom Bahnhof aus trottete ich, den Seesack über der Schulter, zu der angegebenen Adresse. Es war kalt, und obwohl der Winter noch weit war, ahnte man schon Schnee und Frost. Wurde ich beobachtet? Hatte jemand ein Fernglas auf den U-Bahnaufgang gerichtet? Natürlich nicht, aber wenn man eine Rolle spielt, dann sollte man es konsequent tun.
Norsborg steht in dem Ruf, ein ziemlich heruntergekommener Vorort zu sein, aber das stimmt nicht. Hier ist in den letzten Jahren viel passiert; Wohnungen und Fassaden wurden renoviert, Höfe, Grünanlagen und Spielplätze umgestaltet oder neu geschaffen. Inzwischen ist Norsborg eine Stadtrandsiedlung, auf die die Bewohner stolz sein können. Vielleicht gehen auch die Sprayer etwas rücksichtsvoller mit den Wänden um, aber das bleibt wohl ein frommer Wunsch.
Das Haus gehörte zu den älteren in der Gegend, war aber wie die anderen aufpoliert worden; Eingang und Treppe machten einen sauberen Eindruck. Ich schloß die Wohnungstür auf und watete bis zu den Knöcheln in Werbebroschüren und Postwurfsendungen. Die Beleuchtung funktionierte, und ich öffnete erst einmal die Fenster, um zu lüften. Was hätte der echte Odler jetzt gemacht? Den Kühlschrank inspiziert, der in Betrieb war. Er enthielt ein Sixpack Bier, aus dem zwei Flaschen fehlten, Butter, Käse, der völlig verdorben war, eine große Flasche Limonade sowie im Gemüsefach eine Plastiktüte, die ich sofort wegwarf. Auch die Speisekammer war fast leer – Johnny Odler alias Roland Hassel mußte also einkaufen gehen.
In dem kleinen Zentrum von Norsborg entschied ich mich für Vivos Verbrauchermarkt und kaufte die grundlegenden Lebensmittel sowie einige Fertiggerichte aus der Tiefkühltruhe. Breitbeinig wankte ich mit meinen Tüten in die Wohnung und die Matroseneinsamkeit zurück. In dem Seesack fand ich auch Laken und Kopfkissen, und ich war Hiller dankbar, nicht die Bettwäsche der toten Brüder Odler benutzen zu müssen.
Die Wohnung bestand aus zwei kleinen Schlafräumen, einem Wohnzimmer und einer Küche, in der vier Personen sitzen und essen konnten; ein guter Standard also. Da die Brüder so selten zu Hause waren, hatten sie die Einrichtung kaum verschlissen. Die Möblierung war etwas dürftig, aber für zwei Junggesellen und gelegentliche Gäste durchaus ausreichend. Natürlich lag überall Staub. Es gab einen älteren Fernseher mit akzeptablem Bild, ein Radio mit Schnelleinstellung und eine sehr leistungsfähige Stereoanlage. Den CDs und Kassetten nach zu urteilen hatten die Brüder keinen gehobenen Musikgeschmack gehabt, sondern konsumiert, was es an Tankstellen im Sonderangebot gab. Vor dem Bad fürchtete ich mich ein wenig, doch ich hatte schon schlimmeres gesehen. Für eine schnelle Dusche würde es allemal reichen.
Die Wohnung wirkte irgendwie unpersönlich. Hier hatten die Odlers ja nur gelebt, wenn sie einmal nicht auf See waren. Es war ihr Bau, in den sie sich zurückziehen konnten, aber
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