Roland Hassel - 14 - Piraten
die zweite Portion Hähnchen an diesem Tag. Sunnys war besser. Er glotzte mich mit neugierigen Altmänneraugen an; die Brille war ihm auf die Nase gerutscht. In dem kleinen runden Mund fehlten einige Zähne.
»Wie heißen deine Frau und deine Kinder?«
»Hab keine.«
Bedauernd schüttelte er sein gelocktes Haupt und zog eine dicke Brieftasche aus seiner weißen Kochjacke.
»Hier sind meine Frau Isabella und meine sieben Kinder. Sie haben ein Gruppenbild aufgenommen und es mir geschickt. Das hier sind meine elf Enkel. Bald werden es zwölf sein. Die beiden jüngsten habe ich noch nicht sehen können.«
Verliebt schaute er auf das Bild und schmatzte einen Kuß in die Luft.
»Wo leben sie?«
»Oh, in einem schönen kleinen Dorf ein paar Meilen nördlich von Manila. Isabella war die Tochter des Schuhmachers. Viele junge Männer wollten sie haben, weil sie so hübsch war, aber sie hat mich erwählt.«
Wieder betrachtete er die Fotografie und fügte hinzu:
»Und sie ist es immer noch.«
»Ist es nicht Zeit für dich abzumustern und dich um deine Enkel zu kümmern?«
Sorgfältig verstaute er das Bild in der Brieftasche, die er dann in die Jacke zurücksteckte. Seine Hände waren hellbraun mit dunkleren braunen Flecken, die wie Herbstblätter auf trockener Erde aussahen.
»Isabella will es, und ich auch. Jetzt kommt es darauf an, ob Gott will. Deine Sachen sind da unten im Schrank. Sie sind frisch gewaschen und müßten passen.«
Ich schob die Schranktür auf. Darin war es leer und dunkel. Wenn ich den Fuß hineingesetzt hätte, wäre ich vermutlich bis zum Knöchel in Kakerlaken versunken. Vor dem Licht verschwanden sie in Windeseile. Obwohl ich wußte, daß ich mich an solche Erscheinungen gewöhnen mußte, konnte ich mir eine Bemerkung nicht verkneifen:
»Verdammt viele Kakerlaken, Sunny. Paß auf, daß sie nicht beim Kapitän auf dem Teller landen.«
Amüsiert schaute Sunny dem Ungeziefer zu, das sich im Hellegat, wie der Raum in der Seemannssprache hieß, wie zu Hause zu fühlen schien.
»Weißt du, daß die Kakerlaken zu den ältesten Tieren der Welt gehören? Sie werden uns alle überleben, wie die Ratten. Sie richten keinen Schaden an. Aber ich gebe dir recht; hier sind ungewöhnlich viele.«
In dem Unterschrank fand ich eine weiße Kellnerjacke und eine Hose mit Pepitamuster. Irgendwie würden mir die Sachen schon passen; schließlich sollte ich auf keinem Luxusdampfer servieren. Die Kombüse erinnerte an die Kochnische eines Wohnwagens, oder war es umgekehrt? Jedenfalls hatte man jeden Millimeter ausgenutzt. Um unter diesen Bedingungen längere Zeit arbeiten zu können, mußte man eine geradezu pedantische Ordnung halten, doch Sunny schien es zu schaffen. Selbst hätte ich vermutlich bereits nach fünf Minuten das absolute Chaos geschaffen.
»Sonst sieht es mies aus, Johnny«, fuhr Sunny fort. »Die Lebensmittel, die für die Reise an Bord genommen wurden, sind das letzte. Billigste Sorte! Na ja, Sunny wird das Beste daraus machen, aber Wunder kann er auch nicht vollbringen. Wenn es zu schlimm wird, fordere ich, an Land gehen und einkaufen zu dürfen. Glaubst du an Vorahnungen, Johnny?«
»Hab nie welche gehabt.«
»Meine Familie ist dafür bekannt. Was die ›Farlon‹ angeht, fallen sie nicht gut aus. Das Schiff ist in einem schlechten Zustand. Na ja, ich mache meinen Job und vertraue auf Gott. Was soll man sonst tun?«
Er warf einen Blick auf die Uhr und begann, mit Schüsseln und Töpfen zu hantieren.
»›Farlon‹? Was heißt hier ›Farlon‹?«
Sunny warf mir über seine Brille hinweg einen erstaunten Blick zu.
»Du bist schließlich in der Kombüse der ›Farlon‹. Weißt du denn nicht, wo du angeheuert hast?«
»Aber … das Schiff heißt doch ›Carla‹. Ich bin sicher …«
»Da mußt du etwas falsch verstanden haben. Ich und alle anderen an Bord arbeiten auf MS ›Farlon‹.«
»›Carla‹ mit Heimathafen San Lorenzo, Honduras«, behauptete ich halsstarrig.
Er nahm sich einen Löffel und kostete schlürfend an einer Suppe oder Soße.
»Ich weiß nicht, wie das Mißverständnis entstanden ist, aber du befindest dich auf der ›Farlon‹ mit Heimathafen Nikosia auf Zypern!«
9.
Leon hatte mich belogen. »Carla« war ein Scheinmanöver gewesen, ein Name, der nichts mit meiner Wirklichkeit zu tun hatte. Ich war an Bord eines Schiffes, das Hiller nicht kannte, und damit befand ich mich allein in einem wäßrigen Universum. Sunny pfiff vor sich hin und kostete hier und da
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