Rolandsrache
sie gefunden haben, wird sie dich brauchen. Und wir brauchen dich auch.«
»Ja, um diesen verfluchten Roland fertig zu machen. Aber das werde ich. Ich habe es ihr versprochen.« Er drehte den Kopf zur Seite. Hemeling sollte nicht sehen, dass Tränen in seine Augen getreten waren.
»Ich sehe später noch einmal nach dir.« Damit ging Hemeling und schloss leise die Tür.
Einerseits war Claas dankbar, allein zu sein, andererseits kamen die Ängste um Anna mit voller Wucht zurück. Bilder entstanden in seinem Kopf, und in einem sah er sie leblos im Wasser der Weser treiben. Ein anderes zeigte sie bestialisch erschlagen auf einem Bett liegen. Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und weinte. Er liebte dieses Weib so sehr, dass es schmerzte, und er konnte nichts anderes tun, als hier zu liegen und zu warten, bis man sie fand.
***
In der Nähe der Küste drang Anna bereits der Geruch nach Meer, Salz und Fisch in die Nase, und je weiter sie vorankamen, desto intensiver wurde er. Bald sahen sie in der Ferne die kleinen Katen von Wulsdorf. Rauch kräuselte sich in den Himmel.
»Sei am besten still, wenn wir das Dorf betreten. Und versuche nicht, den Leuten ein Zeichen zu geben. Du weißt doch, was sonst geschehen wird?«
Sie wusste genau, was er meinte. »Hab keine Sorge.«
Davon beruhigt, löste er das Seil von ihrem Handgelenk, und sie gingen in das kleine Fischerdorf. Schnell fanden sie einen Laden, in dem Heinrich die Tracht der einfachen Leute erstand. Nun brauchten sie eine Möglichkeit, sich umzuziehen, und fanden diese nach kurzer Suche in einer winkeligen Gasse. Sie legten die geistlichen Gewänder ab, und Heinrich verstaute alles in seinem Bündel. Äußerlich würden sie sich von den Fischern im Ort nun kaum unterscheiden.
Anerkennend betrachtete Heinrich Anna. Es war ihr unangenehm, denn sie hatte das Gefühl, er würde in ihre Seele schauen. »Alles was du trägst, kleidet dich genauso gut wie ein Sonntagskleid. Ich hoffe, es ist dir nicht unangenehm, diese Sachen zu tragen.«
»Mir ist es egal.«
Ein bedauernder Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Das legt sich. Doch nun lass uns sehen, ob eins der Schiffe uns in unsere neue Heimat bringt.«
Zu Annas Enttäuschung lag tatsächlich ein Kraier vor Anker, welcher von Helgoland stammte. Zwei Männer trugen Kisten und Körbe an Bord.
»Warte hier.« Damit ging Heinrich zum Kapitän und wechselte einige Worte mit ihm. Als er zurückkam, sah er zufrieden aus. »Heute ist unser Glückstag. Kapitän Flathmann nimmt uns mit auf die Insel und legt gleich ab.«
Stumm hing Anna ihren Gedanken nach. Bald würde sie auf einer Insel die Gefangene eines Wahnsinnigen sein. Noch immer konnte sie versuchen wegzulaufen, um irgendwie nach Bremen zu gelangen, aber was dann? Sollte sie sich mit ihrer Mutter verstecken oder fortziehen? Wären sie je sicher vor ihm? Wahrscheinlicher war es, dass er sogar vor ihr die Stadt erreichte, immerhin war sie vollkommen mittellos. Nein, sie musste vorerst bleiben und auf eine bessere Gelegenheit warten.
Der Kraier war zwar von den Fischabfällen befreit, aber der bleibende Gestank kaum aushaltbar. »Hockt euch do inne Ecke.« Kapitän Flathmann deutete ans Ende des Schiffs.
Nachdem sie es sich so bequem wie möglich gemacht hatten, legte das Schiff ab. Mit jeder Minute wurde das Festland kleiner – und damit auch ihr Zuhause. Es war stürmisch, und zu allem Übel fing es auf halbem Weg zu regnen an. Anna glaubte, die Fahrt würde nie ein Ende nehmen.
Zusammengekauert harrten sie zwischen den Kisten aus, bis nach vielen Stunden vor ihnen der schroffe Fels von Helgoland auftauchte. Hoch ragte die Insel aus dem Wasser, und das Mondlicht tauchte das Gestein in fahles Grau. Es erinnerte Anna an Bilder, die bei den Predigten der Priester in ihrem Kopf entstanden, wenn diese von der ewigen Verdammnis sprachen. Als sie schließlich an Land gingen, glaubte sie, dass die Insel unter ihren Füßen schaukelte, und hielt sich krampfhaft an einem Pfeiler fest.
»Datt gait vorbei«, lachte der seegeprüfte Kapitän, als er ihre unsicheren Schritte sah.
Heinrich schien die Fahrt nichts ausgemacht zu haben, er bewegte sich sicher wie immer. »Guter Mann, wisst Ihr, wo wir eine Bleibe finden können?«, fragte er.
»Aye. Geht mal zu Sven und seiner Britta, die haben noch wat Leerstehendes. Die wohnen dort.« Er deutete auf das fünfte in einer Reihe von Fischerhäuschen, die dicht zusammenstanden, als wollten sie gemeinsam den Wellen trotzen.
Weitere Kostenlose Bücher