Rolandsrache
Gewicht auf und ab wippte. Der Vogel kauerte sich ganz dicht an den Stamm, plusterte sein Federkleid auf und wurde langsam von den Schneeflocken bedeckt, die nun immer zahlreicher vom Himmel fielen. Hin und wieder schüttelte er das Gefieder aus, das nun nass und struppig war. Anna sah gedankenverloren zu, dann riss sie sich von dem Anblick los, zog ihr schlichtes blaues Kleid an, schlüpfte in den warmen Wollmantel und ging die Treppe wieder hinunter, an deren Ende Adelheid wartete. Anna hatte nicht mitbekommen, dass ihre Basen vom Markt zurückgekehrt waren. Aus der Küche vernahm sie noch immer die gedämpften Stimmen ihres Onkels und der Tante, die miteinander sprachen.
»Vater meinte, du solltest besser nicht allein gehen. Ich soll dir helfen.«
»Danke, ich weiß, dass er es gut meint, aber ich möchte allein sein. Verstehst du das?«
Ihre Base nickte, wenn auch zögerlich.
»Ich glaube, dass meine Mutter eine Weile schlafen wird. Sei so gut, bleib hier und achte darauf, dass es ihr an nichts fehlt, bis ich zurück bin. Wenn doch etwas ist, findest du mich drüben in der Werkstatt. Ich bleibe auch nicht lange weg.«
»Mach ich.«
»Danke.« Anna drückte sie kurz und sah die Erleichterung darüber, dass sie nicht mitgehen musste, auf dem Gesicht ihrer Base.
»Vater scheint böse auf dich zu sein. Aber mach dir nichts draus, er beruhigt sich bestimmt bald wieder. Nimm das Brot und den Käse. Mutter hat es mir für uns mitgegeben.«
Lächelnd nahm Anna ihr die Sachen ab und schob sie sich in die Tasche ihres Kleides. »Sie glaubt wohl, ich verhungere in der kurzen Zeit.« Mit einem Zwinkern bedankte Anna sich und verließ das Haus.
Als sie die Eingangstür hinter sich zugezogen hatte, verstummten die Stimmen, und sie fühlte sich von einer Last befreit. Seit dem Tod ihres Vaters war nichts mehr wie zuvor, selbst ihr Zuhause bereitete ihr im Moment Unbehagen.
Sie atmete einige Male erleichtert durch und spürte die erfrischend kalte Luft in ihren Lungen. Zarte Schneeflocken wehten ihr entgegen, und aus der Ferne erklang die Glocke des Paulsklosters zur Messe. Die Taube saß noch immer in dem Baum und sah müde auf sie herunter. Frei wie ein Vogel müsste man sein, dachte Anna und vertrieb energisch das Gespräch mit ihrem Onkel aus ihren Gedanken. Dann zog sie den Kragen enger und schlug den Weg zur Werkstatt ein, wobei sie beobachtete, wie die weißen Flocken den Boden erreichten, dort einen Moment verharrten und dann zu schwinden begannen.
Claas’ Hütte kam in Sicht. Sie sollte zu ihm gehen, um mit ihm über das Angebot von Hemeling und das Gespräch mit ihrem Onkel zu reden; auch Claas’ Worte, die er am Sterbebett ihres Vaters gesagt hatte, drängten sich ihr wieder ins Gedächtnis, und sie brannte darauf, ihn danach zu fragen, doch sie entschied sich dagegen. Zuerst musste sie selbst das Durcheinander in ihrem Kopf ordnen. Sie nahm deshalb den Umweg durch das Birkenwäldchen, das hinter der Hütte entlangführte.
Als Anna nahe dem Weserufer aus dem Wald trat, lag die Werkstatt ruhig und verlassen vor ihr. Normalerweise hätte sie hier schon das Hämmern der beiden Handwerker gehört, doch jetzt war alles still, und auch die Glocke des St.-Petri-Doms hatte vor einer Weile den letzten Schlag getan. Der Winter mit seinem Mangel an Lauten tat sein Übriges, um die Stimmung in ihr zu drücken. Sie zitterte und zog den Mantel enger, doch die Kälte kam dieses Mal von innen, und der warme Mantel vermochte dagegen nichts zu tun.
Selbst die Lagerhallen von Wegener wirkten an diesem Nachmittag wie verwaist, und es lag auch kein prächtiges Handelsschiff vor Anker. Keiner der sonst so fleißigen Männer schleppte heute Kisten voller Waren auf die Ochsenkarren. Der Fluss war ruhig und führte kein Hochwasser mehr – noch vor einigen Wochen hatte es hier anders ausgesehen. Im vergangenen Sommer war so viel Regen gefallen, dass die Weser für mehrere Tage über die Ufer getreten war und dabei einen großen Teil der Ländereien überschwemmt hatte, ehe sie nur zögerlich wieder zurückgewichen war.
Ein Gefühl der Einsamkeit beschlich Anna, das ihr einerseits willkommen war, andererseits jedoch ein leichtes Unbehagen bescherte, denn der Verlust ihres Vaters drängte sich mit Macht in ihr Bewusstsein. Wieder kreisten die Fragen, wer und warum man ihn getötet haben könnte, in ihrem Kopf herum. Fragen, auf die sie noch keine Antwort wusste, aber es musste etwas mit dem Roland zu tun haben, dessen war sie
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