Rolandsrache
sie mit fester Stimme und versuchte, ihren Arm freizubekommen.
»Aber, aber, wer wird denn so störrisch sein.« Georg lachte und hustete. Dabei lockerte sich sein Griff. Anna nutzte die Gelegenheit und rannte los, so schnell sie konnte.
»Halt, so warte doch«, rief der Narbige, und sie hörte, wie die drei Männer sich ebenfalls in Bewegung setzten.
Auf den schneenassen Wegen rutschte Anna immer wieder weg und musste aufpassen, nicht zu fallen. Als sie auf dem Markt ankam, glaubte sie, ihre Lunge würde zerreißen. Die Uhr zeigte kurz nach Nona. Sie hatte die Glocke nicht gehört. Claas! Voller Hoffnung sah sie zur Domtreppe, doch weder von ihm noch von dem Gespann war etwas zu sehen. Panisch drehte Anna sich nach den drei Männern um, doch zu ihrer Erleichterung war von ihnen nichts zu sehen. Hatten sie so einfach aufgegeben? Das war unwahrscheinlich. Sicher würden sie gleich auftauchen. Wo waren die Büttel, wenn man sie brauchte? Sie konnte zum Wachhaus laufen, aber das lag in der Richtung, in der sie die Verfolger wähnte.
Einen Moment blieb Anna nach Luft schnappend stehen und überlegte verzweifelt, was sie tun sollte. Sie hustete; die Seitenstiche unter ihren Rippen machten das Atmen nicht leichter. Da sie im Dom sicherer war als hier im Freien, sprintete sie die Stufen hinauf in das Innere der Kirche. Vorne beim Altar standen dicht gedrängt ein paar Menschen. Vermutlich hatten sie hier Schutz vor dem Wetter gesucht.
Anna hielt sich außer Atem an einer steinernen Säule fest, denn jetzt gaben ihre Knie langsam nach. Erleichterung machte sich in ihr breit, als sie Heinrich auf sich zukommen sah. Auf sein Gesicht trat ein erschrockener Ausdruck.
»Anna, was ist geschehen?« Im Nu war er bei ihr und hielt sie sacht am Arm fest, ehe sie fallen konnte.
»Männer … verfolgen mich«, stammelte sie. »Drei …!«
Heinrich blickte zum Eingang. »Wie sahen sie aus?«
»Einer … tiefe Narbe …«, Anna versuchte, ruhig zu atmen, »… im Gesicht.«
»Komm mit, ich bringe dich in Sicherheit, und dann gebe ich der Stadtwache Bescheid.«
Sie nickte dankbar und ließ sich von ihm in den kleinen Raum neben dem Kirchenschiff führen, in dem sie ihn beim letzten Mal getroffen hatte.
»Warte hier, du kannst die Tür von innen verriegeln.« Damit verließ er sie und schloss die Tür.
Anna legte den Riegel davor und wartete, bis er nach wenigen Augenblicken wieder bei ihr war.
»Ich habe jemanden mit deiner Beschreibung der drei Männer zur Stadtwache geschickt. Ich bin sicher, dass dir die Männer nicht mehr auflauern, zumindest habe ich in der Nähe keinen sehen können.«
»Vielen Dank, Heinrich. Ich wusste nicht, wohin.«
»Eine Kirche bietet immer Schutz und Sicherheit. Es war gut hierherzukommen.« Er strich ihr tröstend über den Arm. »Beruhige dich erst einmal. Kannst du dir vorstellen, was die Männer von dir wollten?«
»Ja. Einer war der Mörder meines Vaters.«
»Wie kommst du darauf?«
»Er hatte eine Narbe, so wie der vom Überfall.«
»Viele Menschen haben Narben, Anna. Was macht dich so sicher?«
»Ich weiß, dass er es war.«
Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Dann bist du in großer Gefahr.«
Sie seufzte. »Ja, wird wohl so sein. Ich hoffe, dass die Wachen ihn bekommen. Ich muss ihnen noch sagen, dass der Narbige bei der Schlachte wohnen soll.«
»Überlass das mir, ich regel das für dich.« Er legte seine Hand auf ihre. »Im Übrigen habe ich eine gute Neuigkeit für dich. Der Erzbischof wird euch in vier Wochen empfangen.«
Anna hatte zwar auf einen früheren Termin gehofft, aber immerhin bekamen sie eine Anhörung beim Erzbischof. »Ich danke dir. Wir werden kommen.«
Er nickte. »Soll ich dich jetzt nach Hause bringen lassen?«
»Nein, das brauchst du nicht. Claas wollte mich abholen. Er wird sicher gleich kommen.«
»Ah ja. Dann bringe ich dich zum Portal.«
»Das ist sehr freundlich.«
Immer wieder sah Anna zur Kirchuhr, während sie zusammen mit Heinrich auf die Ankunft von Claas wartete. Er war nun schon eine halbe Stunde überfällig. Wo mochte er stecken? Wahrscheinlich horchte auch er irgendwo vergeblich auf das Schlagen der Glocke und bemerkte nicht, wie die Zeit verstrich.
Plötzlich fiel ihr ein, dass noch jemand wartete. Hemeling! Der Ratsherr war bestimmt schon ungeduldig, und sie konnte es sich nicht erlauben, ihn zu verärgern. Sie musste zu ihm. Heinrich durfte nichts davon erfahren, und so griff sie zu einer Notlüge.
»Ach, weißt du, was
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