Rolandsrache
nichts Gutes, und sie hoffte, dass die Ratsherren eine Lösung finden würden.
Hemeling setzte sich nicht, sondern blätterte in einem Stapel Pergament. »Ich bin noch nicht lange zurück und hatte vor, euch so schnell wie möglich zu besuchen, doch dreiste Diebe und unfähige Wachen haben mich gehindert.«
Er deutete mit der Hand um sich, und erst jetzt nahm Anna wahr, dass es viel unordentlicher aussah als beim letzten Mal. Zerknitterte Pergamente und Bilder lagen verstreut herum, und man sah deutlich, dass sie rücksichtslos durchwühlt waren und sogar darauf herumgetrampelt worden war. Auf dem Lesepult türmten sich mehr oder weniger zerrissene Folianten.
»Ich war gerade dabei durchzusehen, was sie alles gestohlen haben.«
»Ich hörte davon, und es tut mir aufrichtig leid.«
Er zuckte mit den Schultern. »Bisher fehlen vor allem teure Bücher, einige Münzen und ein Amtssiegel. Ob mehr weggekommen ist, kann ich noch nicht sagen. Auf jeden Fall haben die Diebe alles durcheinandergebracht.«
»Wird das Rathaus denn nicht bewacht?«, fragte Anna verwundert.
»Zumindest sollte es so sein.« Der Ärger in Hemelings Stimme war unüberhörbar.
»Wenigstens könnt ihr das bald wieder herrichten.«
»Ja, da hast du recht. Doch ich war lange nicht bei euch. Berichte mir doch bitte, wie weit ihr vorangekommen seid.«
»Gut, meine ich.«
»Das freut mich.« Hemeling stand auf und trommelte mit seinen Fingern auf dem Tisch. »Sag, wann wolltest du nach Hause aufbrechen? Ich könnte dich zurückbringen und mir gleich ein Bild von der Arbeit verschaffen.« Den letzten Teil hatte er wieder geflüstert.
»Claas holt mich zur Nona wieder an der Domtreppe ab. Ihr könnt uns gern begleiten«, flüsterte Anna ebenfalls.
»Das wäre recht, doch halte ich ein Treffen vor dem Dom nicht für zweckmäßig. Die Kirche muss nicht wissen, dass wir etwas miteinander zu schaffen haben. Ich werde also mit meinem Wagen am Ostertor auf euch warten.«
Die Domglocke schlug zur Hora Sexta, als Anna wieder auf dem Markt stand. Ihr Besuch beim Ratsherrn war kürzer verlaufen, als sie gedacht hatte, und noch immer blieb ihr bis zum Treffen mit Claas eine Stunde Zeit. Inzwischen hatte sich der Himmel verdunkelt, und die Sonne war verschwunden. Schwere Wolken kamen vom anderen Ufer der Weser herüber und brachten eisigen Wind und Schnee mit sich. Vielleicht sollte sie im Inneren des Doms warten, ehe sie gänzlich nass und durchgefroren war. Anna ging die Treppe hinauf, blieb dann aber unentschlossen stehen, drehte sich um und beobachtete das Treiben auf dem Markt.
Der Zahnreißer baute gerade seinen Stand ab, als eine Frau, vielleicht vier bis fünf Jahre älter als sie selbst, die Stufen heraufkam. Dunkle Ränder lagen unter ihren Augen, und ihr blondes Haar schaute nass unter einem eng um den Kopf gewickelten Tuch heraus. Als sie Annas Blick auffing, zögerte sie einen Moment, doch dann ging sie zum Portal und schritt eilig hindurch. Hatte Anna Verachtung in ihren Augen gelesen? Sie kannte die Frau nicht und konnte sich schwerlich vorstellen, dass sie ihren Blick richtig gedeutet hatte.
Anna ging ebenfalls ins Innere und stellte sich in die Nähe des Beichtstuhls, um dort zu warten. Sie hatte seit Tagen nicht mehr richtig gebetet, und sicher würde es ihr guttun, wenn sie es jetzt nachholte.
»Heilige Anna, verzeih meine Nachlässigkeit in letzter Zeit, aber abends falle ich vor Müdigkeit nur noch ins Bett. Ich weiß, dass das keine Ausrede sein darf, und versuche, mich zu bessern. … Mir brennen so viele Fragen auf der Seele. Ist es richtig, was ich mache? Tue ich Claas unrecht? Vielleicht kannst du mir ein Zeichen senden. Ich weiß, dass ich ihn liebe, und wäre er nicht zu dieser Badefrau gegangen … Vielleicht hat diese auch Informationen von ihm an den Unbekannten weitergegeben. Ach, mir schwirrt der Kopf.«
Anna seufzte leise.
»Auch Mutter ist so hart zu mir in letzter Zeit. Ich weiß, dass sie mein Handeln und den Plan der Annullierung missbilligt. … Vater fehlt uns allen so. Sein Tod ist noch immer ungeklärt, aber wir haben eine Spur gefunden, die uns vielleicht zu den Mördern führt.«
Eine Träne löste sich unter ihren geschlossenen Lidern.
»Mit der Arbeit kommen wir gut voran, und ich hoffe, wir können den Auftrag behalten, doch welche neuen Gefahren bringt das mit sich? Ach, heilige …«
»Sieh zu, dass du Land gewinnst, und lass deine vornehmen Griffel von meinem Priester.« Die gezischelten Worte
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