Rolf Torring 097 - Gefährliche Feinde
Seitentüren des Tempels hatten sich geöffnet, durch die Inder den Tempelraum betraten. Sie hockten sich im Halbkreis um uns auf der Erde nieder.
Dann erschien der alte Priester, den wir aus dem Felsentempel kannten, nahm auf dem Sessel vor uns Platz und hielt eine längere Ansprache, die oft von zornigen Zwischenrufen der Inder unterbrochen wurde.
Der alte Priester schilderte, daß wir zuerst den Tiger erschossen hätten, dann in den Felsentempel eingedrungen seien und schließlich die Göttin Dschira entführt hätten. Zur Strafe müßten wir sterben. Unser Tod würde um so grausamer sein, je länger wir den Aufenthalt der Göttin verschweigen würden.
Beifälliges Gemurmel ging durch die Menge.
Über Rolfs Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln.
Der alte Priester wandte sich an Rolf und fragte ihn, wohin Dschira gebracht worden sei.
Rolf bat den alten Priester, daß er uns gestatten möge, aufrecht zu stehen. Liegend würde er keine Antwort geben.
Auf einen Wink des Priesters sprangen zwei Inder herbei und stellten uns auf die Füße. Wir konnten zwar keinen Schritt tun und wären sicher einfach umgefallen, wenn wir es versucht hätten, aber wir konnten die Menge übersehen, und Rolf konnte dadurch seinen Worten einen stärkeren Nachdruck verleihen.
„Antworte, Fremdling," sprach der alte Priester von neuem, „wohin ist Dschira gebracht worden?" Rolf schüttelte bedächtig den Kopf und sagte: „Ich verstehe nicht viel von euerer Lehre, aber ich wundere mich, daß ihr die Taten eurer Göttin durchkreuzt. Nicht wir haben Dschira befreit, sondern sie uns, denn wie hätten wir sonst den Tempel verlassen können, wo doch sicher überall Posten standen?"
Rolfs Worte verfehlten ihre Wirkung auf die Menge nicht. Der alte Priester bemerkte es und rief sofort: „Das ist nicht wahr. Ihr habt Dschira befreit und haltet sie irgendwo verborgen."
„Sind wir mächtiger als eure Gottheit Dschira?" fragte Rolf, sich an die versammelten Inder wendend. „Glaubt ihr, daß ich Dschira überwältigen könnte? Dschira ist plötzlich in unser Gefängnis getreten und hat uns den Weg gewiesen, den wir gegangen sind. Dabei hat sie uns aufgetragen, über den Fluchtweg zu schweigen. Sie sagte uns außerdem, daß wir von ihren Anhängern, also von euch, verfolgt werden würden. Für diesen Fall gab sie uns den Auftrag, euch zu sagen, daß ihr nichts gegen uns unternehmen solltet. Ihr Wille sei es, daß wir in Freiheit blieben."
„Alles Lüge!" schrie der alte Priester ziemlich unbeherrscht, der seine Stellung gefährdet sah.
„Wenn ich gelogen habe, Priester, dann sage mir und deinen Anhängern doch, wie es uns gelungen sein sollte, aus dem Felsentempel zu entkommen?"
Rolfs ruhige Worte hatten den alten Priester ziemlich aus der Fassung gebracht. Rolf und ich wußten dadurch, daß er unseren Fluchtweg nicht kannte. Um aus seiner Verlegenheit herauszukommen, begann der alte Priester ebenfalls zu lügen.
„Dschira hat mich heute nacht im Traume angefleht," sagte er im Brustton der Überzeugung, „ihr zu helfen, da sie durch Fremde gefangengehalten wird."
„Dann hätte sie dir den Ort angeben sollen, wo sie augenblicklich ist," erwiderte Rolf lachend. „Nein, Inder, denkt an die Worte, die Dschira zu mir gesprochen hat. Allein hätten wir uns aus dem Felsentempel nie befreien können. Die Göttin Dschira muß ihren Grund haben, daß sie uns in Freiheit sehen wollte. Sicher habt ihr sie erzürnt. Vielleicht fühlte sie sich bei euch unfrei. Ich schätze, daß sie nach einiger Zeit freiwillig zu euch zurückkehren wird, wenn ihr gläubig seid."
Ein beifälliges Murmeln ging durch die Menge. Der alte Priester aber rief voller Wut:
„Alles ist Lüge, was ihr sagt! Gebt uns den Ort an, wo Dschira sich im Augenblick befindet!"
„Wie könnte ich es, da ich es selbst nicht weiß," antwortete Rolf wahrheitsgemäß. „Glaubt ihr, daß Dschira mich, einen Andersgläubigen, zu ihrem Vertrauten gemacht hat? Ich bin nicht mächtiger als eure Gottheit, ihr aber tadelt das, was sie getan hat. Dafür wird Dschira euch eines Tages hart bestrafen."
Jetzt hatte Rolf einen Trumpf ausgespielt, der seine Wirkung nicht verfehlte.
Aus der Menge erhob sich ein Sprecher, der — von Beifallsrufen unterstützt — unsere sofortige Freilassung verlangte. Der alte Priester protestierte heftig dagegen. Vier fast ebenso
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