Rollende Steine
siebzehn Jahren hinwegführte, nicht angemessen zu sein.
Das Kornfeld existierte nicht mehr – besser gesagt, noch nicht –, doch der Garten bot den gleichen Anblick. Susanne sah seltsam beschnittene Bäume und einen kleinen Teich, in dem ein Fischskelett schwamm. In anderen Gärten gab es fröhliche Zwerge, die bunte Schubkarren schoben; hier standen kleine Skelette, ausgestattet mit schwarzen Umhängen und Sensen. Manche Dinge änderten sich nicht.
Der Stall bot eine Überraschung: Binky stand dort.
Er wieherte leise, als Susanne ihn in eine leere Box führte, neben seinem jüngeren Selbst.
»Ihr kennt euch bestimmt«, sagte sie. Eigentlich hatte sie nicht damit gerechnet, daß es funktionierte, doch als sie nun darüber nachdachte… Warum nicht? Die Zeit war etwas, das anderen Leuten zustieß, oder?
Sie betrat das Haus.
NEIN. ICH DARF KEINEN MENSCHLICHEN APPELLEN GEHORCHEN. ICH KANN ZU NICHTS GEZWUNGEN WERDEN. ICH TREFFE NUR DIE ENTSCHEIDUNGEN, DIE ICH FÜR RICHTIG HALTE…
Susanne schlich an den mit Lebensuhren gefüllten Regalen entlang. Niemand bemerkte sie. Wer Tod bei einem Kampf zusieht, achtet nicht auf Schatten im Hintergrund.
Davon hatten sie ihr nie erzählt. Darüber schwiegen Eltern immer. Ihr Vater mochte Tods Lehrling sein und ihre Mutter seine Adoptivtochter, aber das verlor an Bedeutung, wenn sie Eltern wurden. Eltern waren nie jung. Sie warteten nur darauf, Eltern zu werden.
Susanne erreichte das Ende der Regale.
Tod stand vor ihrem Vater – beziehungsweise vor dem jungen Mann, der später einmal ihr Vater sein sollte.
Drei rote Striemen glühten auf seiner Wange, wo Tods Hand sie getroffen hatte. In einem Reflex tastete Susanne nach den blassen Linien auf ihrer eigenen Wange.
Aber so funktioniert Vererbung nicht.
Zumindest nicht die… normale…
Ihre Mutter – die junge Frau, die später einmal ihre Mutter sein sollte – preßte sich an eine Säule. Ihr Aussehen hatte sich mit zunehmendem Alter verbessert, fand Susanne. Zumindest war sie in der Wahl ihrer Kleidung anspruchsvoller geworden.
Susanne schüttelte sich innerlich. Sie dachte an Mode? Ausgerechnet jetzt ?
Tod stand vor Mort, in der einen Hand ein Schwert, in der anderen die Lebensuhr seines Lehrlings.
DU AHNST NICHT, WIE SEHR ICH DAS BEDAUERE, sagte er.
»Vielleicht doch«, erwiderte Mort.
Tod hob den Kopf und begegnete Susannes Blick. In seinen leeren Augenhöhlen glühte es blau, und das Mädchen versuchte, mit den Schatten zu verschmelzen.
Tod sah zu Mort, zu Ysabell, wieder zu Susanne und erneut zu Mort. Er lachte.
Und drehte die Lebensuhr um.
Er lachte abermals.
Und schnippte mit den Fingern.
Mort verschwand mit dem leisen »Plop!« implodierender Luft. Dasselbe wiederholte sich bei Ysabell und den anderen.
Plötzlich herrschte Stille.
Tod stellte das Stundenglas vorsichtig auf den Tisch und starrte eine Zeitlang an die Decke. Dann fragte er:
ALBERT?
Der Diener trat hinter einer Säule hervor.
SEI BITTE SO NETT UND BRING MIR EINE TASSE TEE.
»Ja, Herr. Hehe, du hast es ihm ganz schön gegeben…«
DANKE.
Albert eilte in Richtung Küche.
Erneut war es still. Soweit es im Zimmer mit den Lebensuhren überhaupt still sein konnte.
KOMM HERAUS.
Susanne folgte der Aufforderung und trat vor die Letzte Realität.
Tod war zwei Meter zehn groß und wirkte noch größer. Susanne entsann sich vage an eine Gestalt, die sie auf den Schultern durch große dunkle Räume trug. In ihrer Erinnerung war er immer eine Art Mensch gewesen – jemand, der mehr Knochen zu haben schien als andere Leute, aber immer menschlich blieb, auf eine Weise, die sie nicht erklären konnte.
Diese Erscheinung hingegen war nicht menschlich. Groß, stolz und schrecklich ragte sie vor Susanne auf. Gelegentlich entschied sie, die Regeln hier und dort etwas freier als sonst auszulegen, aber das machte die Gestalt keineswegs menschlicher. Dies ist der Hüter des Weltentores, dachte Susanne. Per definitionem unsterblich. Das Ende allen Seins.
Er ist mein Großvater.
Wird es sein. Ist es. War es.
Susannes Gedanken kehrten zu dem Etwas im Apfelbaum zurück. Sie sah an dem Schwarz vor ihr empor und dachte dabei an den Baum. Für beide Bilder schien in einem Bewußtsein nicht genug Platz zu sein.
NA SOWAS, sagte Tod. DU HAST VIEL VON DEINER MUTTER. UND VON DEINEM VATER.
»Woher weißt du, wer ich bin?« fragte Susanne.
ICH HABE EIN EINZIGARTIGES GEDÄCHTNIS.
»Aber wie kannst du dich an mich erinnern ? Ich bin noch nicht einmal
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