Rom - Band II
Mit einem einfachen Opernglas können Papst und König, wenn sie sich ans Fenster stellen, einander sehr deutlich sehen. Sie sind nichts als unbedeutende, im grenzenlosen Raum verlorene Punkte; und welcher Abgrund liegt zwischen ihnen, wie viele Jahrhunderte der Geschichte, wie viele Generationen, die gekämpft und gelitten haben, welch tote Grüße und welch Samen für die geheimnisvolle Zukunft! Sie sehen sich und führen mit einander noch immer den ewigen Kampf um das Volk, das vor ihren Augen auf- und abflutet. Wem wird die unumschränkte Macht zufallen, dem Pontifex, dem Seelenhirten, oder dem Monarchen, dem Herrn der Körper? Pierre fragte sich, welchen Betrachtungen, welchen Träumereien Leo XIII. sich wohl hinter diesen Scheiben hingeben mochte, hinter denen er seine weiße, geisterhafte Gestalt noch immer zu sehen meinte. Sicherlich mußte er sich über die gewaltige Fehlgeburt der italienischen Regierung freuen, wenn er das neue Rom, die alten, verwüsteten Viertel, die von einem Unglückswinde gepeitschten neuen Viertel vor sich liegen sah. Man hatte ihm seine Stadt gestohlen, man hatte ihm sozusagen zeigen wollen, wie man eine große Hauptstadt schafft – und das Ende war diese Katastrophe mit den vielen häßlichen und unnützen Bauten. Man wußte nicht einmal, wie man sie fertig stellen sollte. Die schrecklichen Verlegenheiten, in die die usurpatorische Regierung geraten war, die politische und finanzielle Krise, die wachsende Nationalkrankheit, in die diese Regierung eines Tages zu stürzen drohte, mußte ihn entzücken. Und doch, schlug nicht auch in seiner Brust das Herz eines Patrioten, war nicht auch er ein liebender Sohn dieses Italien, dessen Genius und uralter Ehrgeiz in seinen Adern kreiste? Nein, nein, gegen Italien wollte er nichts unternehmen; im Gegenteil, er wollte alles thun, damit es wieder der Herr der Erde werde! Sicherlich stieg inmitten seiner freudigen Hoffnung ein schmerzliches Gefühl in ihm auf, wenn er sah, wie es zu Grunde gerichtet, vom Bankerott bedroht war, wie es dieses zerrüttete, unvollendete Rom gleich einem Bekenntnis seiner Ohnmacht zeigte. Aber wenn auch die Dynastie Savoyen eines Tages weggefegt werden mußte – war er nicht da, um sie zu ersetzen, um endlich wieder in den Besitz seiner Stadt zu treten, die seit fünfzehn Jahren eine Beute der Niederreißer und Maurer war, die er seit fünfzehn Jahren nur noch von seinem Fenster aus geschaut hatte? Dann wurde er wieder der Herr, herrschte über die Welt, thronte in der prädestinirten Stadt, der die Propheten die Ewigkeit und die Weltherrschaft zugesichert hatten.
Der Horizont erweiterte sich, und Pierre fragte sich, was Leo XIII. wohl jenseits von Rom, jenseits der römischen Campagna, jenseits des Sabiner- und Albanergebirges, in der gesamten Christenheit sähe. Seit achtzehn Jahren hatte er sich in seinem Vatikan eingeschlossen, schaute er die Welt nur durch das Fenster seines Zimmers. Was sah er von da oben, was für Wahrheiten und Gewißheiten drangen aus unseren modernen Gesellschaften zu ihm herauf? Manchmal mußten doch von den Höhen des Viminal, wo der Bahnhof sich befindet, die langen Pfiffe der Lokomotive bis zu ihm tönen: das war unsere wissenschaftliche Zivilisation, die Annäherung der Völker, die freie, der Zukunft zuschreitende Menschheit. Träumte er selbst von Freiheit, wenn er den Blick nach rechts wandte und dort drüben, jenseits der Gräber m der Via Appia das Meer ahnte? Hatte er je den Wunsch empfunden, fortzugehen, Rom und seine Ueberlieferungen zu verlassen, um anderswo das Papsttum der neuen Demokratie zu gründen? Es hieß, daß er ein so klarer, so durchdringender Geist sei; dann hätte er ja verstehen, dann hätte er zittern müssen, wenn aus gewissen kampflustigen Ländern ein fernes Geräusch zu ihm herüberdrang – zum Beispiel aus Amerika, wo revolutionäre Bischöfe im Begriffe waren, das Volk zu erobern? Arbeiteten sie für ihn oder für sich selbst? Stand nicht eines Tages ein Bruch zu befürchten, wenn er ihnen nicht folgen konnte, wenn er, auf allen Seiten vom Dogma und der Ueberlieferung gefesselt, störrisch in seinem Vatikan blieb? Und von fernher wehte ein drohender, das Schisma verkündender Wind, strich ihm über das Gesicht und erfüllte sein Herz mit wachsender Angst. Wohl aus diesem Grunde war er der Versöhnungsdiplomat geworden; er wollte in seiner Hand alle zerstreuten Kräfte der Kirche vereinigen, drückte über die Kühnheiten gewisser Bischöfe die Augen
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