Rom kann sehr heiss sein
Dreiminutenlichtes. Aber es blieb finster. Ich tastete mich die Treppe empor, jeweils drei, vier Stufen nehmend. Im zweiten Stock ein beleuchtetes Klingelschild, das wenigstens einen trüben Schimmer verbreitete. Die Wohnungstür war angelehnt. Ich starrte den Spalt an, dann überwand ich mein Zögern und betrat die Wohnung. »Dale? Bist du da?«, flüsterte ich. Durch die Fenster im Hintergrund sah ich die Wohnung, die ich soeben verlassen hatte, sah drüben die Zimmerdecke mit den Stuckgirlanden, die schwach im Licht des über der Gasse hängenden Weihnachtssternes leuchtete. Deshalb also hatten sie das Licht gelöscht: Meine Silhouette war vor diesem Hintergrund nur zu gut zu erkennen gewesen.
Es roch nach kaltem Rauch. Ich ging zur Stehlampe, tastete nach dem Schalter, fand eine kleine Schnur, zog daran. Licht flammte auf. In ihm sah ich, dass am Fenster ein Mantel hing. Sonst war niemand da. Auch keine Leiche auf dem Boden.
Draußen war das Schneetreiben in einen regelrechten Schneesturm übergegangen. Ich trat an den Schreibtisch, schaltete den Computer ein. Elektrische Fensterkreuze. Der Bildschirmschoner. Ich versuchte, in eine der Dateien hineinzukommen, jedoch scheiterte ich am Passwort, das verlangt wurde.
Die Einrichtung des Raumes glich der eines Büros. Regale voller Bücher und Akten. Dann fiel mein Blick auf einen Aschenbecher. Eine Kippe lag darin. Ich holte ein Tempotaschentuch aus meiner Jacke, tat die Kippe hinein und steckte sie ein. Dann ging ich.
In meiner Wohnung angekommen, legte ich eine CD auf. Mozart. Süßliche Harmonien, die mir plötzlich vorkamen, als habe der Komponist einen beschönigenden Schleier über seine abgrundtiefen Ängste legen wollen.
5. Das Brückenhäuschen
Ich hatte nun eigentlich genug Zeit, um mir über etwas klar zu werden, dessen Problematik nicht nur verworren war, konturenlos, diffus, sondern von dem ich überhaupt nichts wusste, außer der Tatsache, dass ich damit angefüllt war wie eine Kinderpuppe mit Stroh. Meine eigene Seele, ihre Bedürfnisse, Funktionen, Rollen, ihr Spielzeug, die Liebe, ihr Spielzimmer, das Leben.
Dales Verschwinden hatte mich in Angst und Schrecken versetzt. Ihr plötzliches Auftauchen tat es noch mehr. Ich wäre am liebsten ausgerissen. Irgendeine Reise weg von allem! Und dennoch begann ich noch in dieser Nacht damit, über den Fall ernsthaft nachzudenken. Ich holte die Zigarettenkippe hervor und betrachtete sie unter einer Lupe. Deutlich waren Spuren von Lippenstift zu erkennen. Karmesinrot. Dale hatte diese Farbe zuweilen benutzt, weil sie zu ihrem hellen Teint gut passte. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, die Kippe zwischen die Lippen zu stecken, um ihr nah zu sein. Ich war mir sicher, dass Dale lebte, dass sie irgendwo in dieser Stadt war, aber ich war mir nicht sicher, ob sie wollte, dass ich dies wusste.
Dann fielen mir die Finger der Frau ein, die am Computer schrieb. Ich habe ein fotografisches Gedächtnis. Also konnte ich nachträglich konstatieren, dass die Dame blind geschrieben hatte. Aber auch, dass immer wieder einer der Finger von den Buchstabentasten auf die oberste Reihe der Tastatur, die die Zahlen enthält, gegangen war und dort einen kurzen Tanz aufgeführt hatte. Ich schloss daraus, dass ihre Blindschreibkünste keine Zahlen umfassten, also war sie kaum auf Büroarbeiten, die Rechnungen einschlossen, spezialisiert. Ich kenne eine Schriftstellerin, die perfekt blind schreibt, aber die Zahlen nie gelernt hat, weil sie meint, sie zu selten in ihrem Werk zu benützen. Es geht um eine Registratur, dachte ich. Namen und Zahlen, zwischen denen ein Zusammenhang besteht. Was aber war mit der Leiche auf dem Parkett? Auch dieses Bild sah ich jetzt deutlich. Mir kam der Verdacht, dass es nichts anderes gewesen war als der Schatten jener Schwangeren, geworfen von der Punktlichtquelle einer aufglimmenden Zigarette.
Allmählich legte sich der Sturm draußen und machte wieder dichtem Schneetreiben Platz. Die großen Flocken waren vom dämmernden Morgenhimmel blau eingefärbt. Plötzlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich verspürte den dringenden Wunsch, unter Menschen zu sein. Also schlüpfte ich in meinen Mantel und verließ die Wohnung. In der Herrengasse waren alle Fenster dunkel. Auch der Weihnachtsstern war erloschen. Ich rannte durch die Altstadt. Sie schien noch nicht aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht, bis auf den Schneepflug, der brummend durch die Gassen fuhr. Ich hoffte, irgendwo ein Lokal zu finden, das noch
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