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Rom kann sehr heiss sein

Titel: Rom kann sehr heiss sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Bo tius
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sind seitdem naive Ignoranten, wenn sie ihr Dasein als ein manierliches Nacheinander zwischen Geburt und Tod zu führen versuchen.« Er lachte höhnisch auf und ließ ein paar weich gespielte Arpeggi in sein Gelächter einfließen. Dann drehte er sich um und gab mir die Hand. »Glaub mir, mein Freund, Bern ist der Hades, die Aare ist der Styx. Deshalb hat man sie auch zur Hauptstadt eines Landes gemacht, in der alle Leute Lebendtote sind. Jeder hier trägt seinen Tod in sich wie ein Kind. Er ist eine Chimäre, ein Mischwesen aus Leben und Tod.«
    Ich ging. Zweifellos war der Kerl nicht ganz richtig im Kopf. Ein Pianist, der sich für Liszt zu halten schien! Bern war weniger ein Hades für mich als eine gut geführte Psychiatrie. Das Behäbige, das gesetzt Bürgerliche der Einwohner, ihre Langsamkeit war wohl eine Art Mauer, hinter der sie ihren Hang zur Schizophrenie versteckten.
    Das Schneetreiben hatte aufgehört. Als ich den Münsterplatz überquerte und in den Himmel sah, hörte ich die Musik noch immer. Ich glaubte, alle schwarzen und weißen Tasten auf mich einstürzen zu sehen, die Liszt in seinem langen Leben mit den Fingerkuppen berührt hatte.
    Vor dem Haus gegenüber meiner Wohnung stand ein Möbelwagen. Arbeiter trugen Kisten und Einrichtungsgegenstände heraus und verstauten sie auf der Ladefläche. »Wird hier eine Wohnung frei?«, fragte ich.
    »Schon wieder vermietet«, lautete die lakonische Antwort.
    »Was war das für ein Büro?«
    »Eine private Arbeitsvermittlung oder so was Ähnliches.«
    Ich betrat den Flur und sah, dass er durchs Haus verlief und am Ende eine Tür hatte. Ich öffnete sie. Sie ging auf einen kleinen Garten hinaus, der steil zur Aare hin abfiel. Der frische Schnee hatte alle Spuren getilgt, aber ich war mir sicher, dass die drei Frauen diesen Weg genommen hatten, um zu verschwinden.
    Dann war ich in meiner Wohnung. Ich ging durch die Räume. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass jemand in meiner Abwesenheit da gewesen war, aber konkrete Spuren fand ich nicht.
    Ich verschloss die Wohnungstür und auch die Tür zum Arbeitszimmer. Dann zog ich die Vorhänge zu, legte mich hin und lauschte von neuem den Geräuschen der Wohnung, dem Knacken von Holz, dem Flüstern und Rieseln von Warmwasser in der Zentralheizung. Über mir im Dämmerlicht der Dunkelheit glaubte ich das dritte Auge des Götzen schwach leuchten zu sehen wie ein irisierendes Katzenauge.

6. Das Münster

    Hätte ich damals bereits etwas von Genetik gewusst, von den unterschiedlichen Phasen der Zellentwicklung, wäre mir vermutlich aufgegangen, dass ich mich damals in einer Art G1-Zustand befand.
    Ich will kurz erläutern, was für ein Zustand dies ist. Zwischen den beiden aktiven Phasen der Zelle, der Zellteilung, in der sich die Chromosomen verdoppeln, und der sich anschließenden Phase des Zellwachstums, fällt sie in einen Zustand, den die Fachleute als G1 bezeichnen. G von Gap, von Lücke. Die Zelle ist äußerlich passiv, innerlich jedoch aktiv, ähnlich wie ein Mensch, der betet. Sie scheint sich so auf die anschließende Mühsal des Wachstums vorzubereiten. Wenn man ihr in dieser Situation die Nahrung entzieht, wandelt sich die G1-Phase in die so genannte G0-Phase. Die Zellentwicklung scheint völlig gestoppt. Die Fachleute sagen, die Zelle sei abgeschaltet. Sie hat aufgehört, sich auf etwas vorzubereiten. Später hat man herausgefunden, dass sie jetzt einer embryonalen Stammzelle ähnelt. Das sind Zellen, die sich noch nicht spezialisiert haben. Sie sind totipotent, wie es im Fachjargon heißt. Das bedeutet, man kann sie in alle möglichen Richtungen programmieren, sodass sie sich, wenn man sie wieder anschaltet, zu den unterschiedlichsten Zelltypen entwickeln, zu Muskel-, Leber-, Haar- oder Nervenzellen zum Beispiel. Ein Mensch, der seine Wüste gefunden hat, verfällt in einen solchen G0-Zustand, wenn er nur lange genug in ihr lebt. Von Jesus heißt es, dass er vom Geist in die Wüste geführt wurde und nach vierzig Tagen strengen Fastens Hunger bekam. In diesem Augenblick trat der Teufel auf und versuchte ihn. Für mich ist diese Parabel einfach zu begreifen. Jesus war in jenem Moment in der G0-Phase, das heißt alles war möglich. Und genau das wusste sein Widersacher, genau das war die Chance des Teufels. Jesus konnte sich damals in alles entwickeln. Er konnte zum Verbrecher werden, zum Poeten, zum Langweiler oder zur Lichtgestalt. Dass Jesus die lukrativen Angebote des Versuchers ausschlug – immerhin

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