Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rom kann sehr heiss sein

Titel: Rom kann sehr heiss sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Bo tius
Vom Netzwerk:
Rauschen der Aare unter uns? Es ist ein Klang, der nichts anderes bedeutet als Stagnation. Die Strömung der Ewigkeit, das Nichts, es bewegt sich und tritt doch zugleich auf der Stelle. Es ist eine bestimmte Art von Musik. Pass auf, ich werde es dir beweisen.«
    Er drehte sich auf seinem Klavierschemel um und begann zu spielen. Die Töne schienen aus zehn Fingern zu fließen wie aus zehn sprudelnden Quellen. Wirbelnd und sich in Vertiefungen sammelnd. »Das ist von mir«, sagte er stolz. »Eine Musik, die dahinströmt und dennoch auf der Stelle tritt.«
    Fasziniert sah ich zu, wie seine Finger die Tastatur auf und ab glitten. Manchmal wirbelten sie wie Trommelschlägel. Die Musik, die dabei entstand, verschmolz mit dem Rauschen der Aare und trug mich mit ihrer Strömung davon.
    Dann hielt er inne und sprach, mehr zu sich selbst gewandt, ohne sich zu mir umzudrehen: »Ich spiele die zwölf Etudes d'exécution transcendante. Eigentlich sind es Übungsstücke, aber in Wahrheit habe ich in ihnen mein musikalisches Bekenntnis niedergeschrieben, und zwar schon vor vielen Jahren, als ich fünfzehn war. Ich wusste damals schon, die Virtuosität muss bis zur Unspielbarkeit getrieben werden. Denn erst in ihrem Bereich beginnt die Musik sich von den Noten zu lösen und frei dahinzuströmen. Die Noten sind dann nichts anderes als Steine im Flussbett, an denen sich die schönsten und gefährlichsten Wirbel bilden. Lange Zeit galten einige dieser Etüden als zu schwierig. Nur ich konnte sie spielen. Sie waren mein Eigentum in einem ganz intimen Sinne. Heute gibt es Pianisten, die sie ebenfalls zu bewältigen scheinen, aber sie täuschen sich, sie imitieren sie nur. Um sie wirklich zu meistern, ist es absolut nötig zu vergessen, dass und wie man spielt. Man muss seine Hände gleichsam abhacken und in die Strömung werfen und vom Ufer aus zusehen, wie sie kreiseln und tanzen. Ich spiele jetzt das letzte Stück, Chasse neige genannt. Man könnte es mit heftigem Schneetreiben übersetzen. Die weißen Tasten sind die Schneeflocken, die schwarzen Tasten sind der Nachthimmel, vor dem sie dahinwirbeln. Ich habe hier die Idee der Unspielbarkeit besonders deutlich zum musikalischen Prinzip meiner Tonsprache gemacht, so wie sehr gute Autoren das Schweigen in ihre Sprache einbeziehen.«
    »Was ist mit Mozart«, sagte ich.
    »Mozart?« Er wirkte wie jemand, der sich ein Lachen ersparen möchte, weil es die Sache nicht wert ist. »Mozart war ein Geisteskranker, der vom Mollakkord erhoffte, er könne ihn aus seinem Irrsinn erlösen.«
    Wieder spielte er, wieder wurde er fortgerissen von diesen Klängen. Abrupt hörte er auf. »Bern ist eine Totenstadt«, sagte er. »Es gibt hier mehr lebende Leichname und mehr tote Lebende als anderswo. Unsere viel gerühmten Lauben sind die Wandelgänge toter Seelen in einer ausgedehnten Krypta. Wenn man Glück hat, kann man hier des Nachts dem Geist von Robert Walser, dem einzigen großen Dichter unseres Landes, begegnen. Er hat eine Weile in der Gerechtigkeitsgasse und dann in der Junkerngasse gewohnt. Er ist immerfort umgezogen, immer von sich weg und wieder auf sich zu. ›Bin wach und liege zugleich in tiefem Schlaf‹, hat er in einem Gedicht geschrieben. So geht es uns allen hier. Und auch nur hier, an diesem verrückten Ort, konnte es geschehen, dass uns ein völlig unbekannter kleiner Patentanwalt die Zeit stahl. Er zerstörte unser Bild von ihr als einem soliden, vom Raum und anderen Faktoren der Wirklichkeit unabhängigen, gleichmäßig dahinfließenden Strom. Ein tröstliches Bild, auf das wir nun für immer verzichten müssen, weil dieser Kerl plötzlich erkannte, dass die Zeit sich zuweilen dehnt oder zusammenzieht wie ein Gummiband, dass sie Strudel bildet wie die Aare bei der Schneeschmelze, dass sie manchmal zäh ist wie Sirup, wie ein Moor, in dem man versinken kann. Die Ewigkeit und der Blitz sind nur die beiden äußersten Enden einer durch und durch kapriziösen und chaotischen Struktur, in der sich Ereignisse vollziehen. Es war im Jahr 1905, als dieser schreckliche Mensch hier auf der Brücke stand, ins Aarewasser starrte und plötzlich begriff, dass die Zeit etwas Relatives ist, dass sie mit dem Raum eine enge Bindung eingeht, dass ihr Ablauf von der relativen Geschwindigkeit zwischen den Bezugssystemen abhängt. In keiner anderen Stadt hätte der Mann dies bemerken und niederschreiben, in keiner anderen hätte er das klassische Weltbild der Physik zertrümmern können. Alle Menschen

Weitere Kostenlose Bücher