Rom kann sehr heiss sein
immer geöffnet war.
Endlich, als ich schon aufgeben wollte, sah ich ein erleuchtetes Kneipenschild. Ich stieg die steile Steintreppe hinunter und öffnete eine schwere Tür, schlug den Vorhang zur Seite, der als Kälteschutz diente, und befand mich in einer seltsamen Unterwelt. Ein Gewölbekeller, eingerichtet wie ein Operationssaal, überall Chrom, Stahl, Glas. Rohre an den Wänden, unter der Decke. Alles Gemütliche war vom Innenarchitekten peinlich vermieden worden. Auch die Leute erinnerten an Ärzte. Junge Männer um die zwanzig, kurz geschorene Haare, weiße Hemden, klinische Sauberkeit ausstrahlend, keimfreies Lächeln, antiseptische Atmo-sphäre. Ventilatoren sogen den Zigarettenrauch auf. Es roch nach Seife und Haarwasser. Technomusik dröhnte aus den Lautsprechern. Alle tranken Cocktails, obwohl es früher Morgen war. Ich bestellte einen Pflümlischnaps und ein Bier. Beides wurde mir mit einer Miene serviert, als hätte ich zum Abendmahl eine Coca-Cola verlangt.
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass ich mich in ein Schwulenlokal verirrt hatte, in dem es keine Sperrstunde gab. Man ignorierte mich. Es war, als sei ich Luft. Schlechte Luft vielleicht. Ich kann nicht genau sagen, woran es lag, dass ich mir wie ein Eindringling vorkam. Vermutlich bildete ich mir dies auch nur ein. Der einzige Gast, der ebenso wenig wie ich in diese sterile Unterwelt zu passen schien, war ein Mann, der die meiste Zeit völlig in sich versunken an einem Tisch saß. Ich bemerkte, dass seine Hände auffallend groß waren. Sie wirkten wie die Gliedmaßen einer Marionette, an deren Fäden gerade niemand zog. Sie lagen einfach so da, hölzern, wie tot, und dennoch ging etwas Erregendes von ihnen aus. Als ob ihre Passivität künstlich sei, wie eine Betäubung. Sie wirkten amputiert. Attrappen. Kunstglieder. Er trug einen schwarzen Schlapphut, unter dem die langen, grauen, strähnigen Haare fast bis auf die Schultern fielen. Der Mann hatte ein markantes Gesicht, große Nase, starkes Kinn. Einen breiten, sinnlichen Mund. Er starrte mich jetzt an mit einem Blick, der amüsiert wirkte.
Ich stand auf und setzte mich zu dem Fremden. Er reichte mir eine dieser Holzhände. Sie fühlten sich kalt und hart an. »Sind Sie jemals jung gewesen?«, fragte er mich. Ich war so verblüfft, dass ich zugleich nickte und dabei den Kopf zu schütteln versuchte. Es musste komisch gewirkt haben, denn er lachte und legte mir seine Pinocchiohand auf die Schulter. »Nehmen Sie mir meine Sätze nicht übel, mein Freund. Ich meine selten, was ich sage, und ich sage nie, was ich meine. Kommen Sie mit.« Seine Stimme klang freundlich, obwohl ein gewisser Befehlston nicht zu überhören war. Ich folgte ihm nach draußen in das Schneegestöber.
Bin ich wirklich jemals richtig jung gewesen?, dachte ich und versuchte krampfhaft, mich an meine Kindheit zu erinnern. Alles, was mir einfiel, waren Bisse in Butterbrote und Doktorspiele auf dem Dachboden. Der Schnee lag dick auf dem Straßenpflaster, und ich musste mir Mühe geben, nicht auszurutschen. Als wir die Nydeggbrücke erreichten, packte uns das Schneetreiben seitlich und weißelte unsere rechten Mantelseiten. Mein Führer schloss die Tür des ersten Brückenhäuschens auf, und ich folgte ihm in einen kleinen, dunklen Raum, der feucht roch wie ein Keller und dennoch etwas Luftiges hatte wie eine Gondel. Fast den halben Raum nahm ein großer Flügel ein. Am Fenster zur Aare hin stand ein Stuhl, auf den mein Gastgeber deutete. »Setz dich«, sagte er knapp und nahm selbst auf dem Klavierhocker Platz. »Hörst du das Rauschen des Flusses?« Er legte einen Finger an die Lippen. Das Rauschen füllte den ganzen Raum wie einen Resonanzkörper.
»Du scheinst mir zu den Leuten zu gehören, die immer die Mitte zwischen Geburt und Tod zu halten versuchen, weil sie mit beidem nichts zu tun haben wollen. Ein einfaches Lebensprinzip. Als du acht Jahre warst, hast du dich wie ein Vierjähriger benommen, stimmt's? Mit achtzehn warst du gerade mal neun. Als du in die Pubertät kamst, warst du schon über dreißig, und jetzt schätze ich dich auf vierundvierzig, also bist du gerade mal zweiundzwanzig, was das seelische Alter anbelangt.«
Ich starrte ihn entgeistert er. Er hatte Recht mit dem, was er sagte.
»›Alles fließt‹, soll Heraklit gesagt haben«, fuhr er fort. »Der Fluss als Symbol ewiger Veränderung. Werden und Vergehen. Du steigst niemals in den gleichen Fluss. Das ist totaler Unsinn. Hörst du das
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