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Rom kann sehr heiss sein

Titel: Rom kann sehr heiss sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Bo tius
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bot ihm der Teufel nichts Geringeres als die Weltherrschaft an –, war eine echte Entscheidung, die ihm niemand eingeflüstert hatte, denn in diesem Augenblick war Jesus durch die Bedingungen der vorangegangenen Askese totipotent geworden.
    Damals war ich leider nicht in der Lage, all dies zu begreifen, sonst wäre ich vielleicht so konsequent gewesen, meine Wüste wirklich zu suchen, um ebenfalls totipotent zu werden. Ich fühlte mich zerschlagen, matt wie nach einer langen Krankheit, als ich gegen Mittag erwachte. Ich hätte zum Bahnhof gehen müssen, irgendwohin fahren, ein neues Leben beginnen. Stattdessen duschte ich kalt und ging zum Frühstücken in eines dieser Berner Restaurants, in denen die Zeit relativ ist, die Wintermäntel an der Garderobe wie frisch abgezogene, noch warme Tierfelle wirken und an den Tischen die roten Gesichter der Besitzer im behäbigen Vergnügen bloßen Existierens glänzen. Ich aß fett und gut und verdünnte meinen Kaffee mit einem doppelten Pflümlischnaps. Dann ging ich zum Münster. Zum ersten Mal sah ich mir das berühmte Relief im Tympanon des Hauptportals genauer an. Es war offenbar frisch renoviert, sah ein halbes Jahrtausend jünger aus, als es in Wirklichkeit war. In der Mitte schwingt der vergoldete Erzengel Michael sein Schwert, links von ihm die Auserwählten mit starren, gelangweilten Gesichtern, rechts die verrenkten nackten Leiber der Verdammten. Ihr rosa Fleisch wartet auf die züngelnden Flammen des Fegefeuers. Dämonen, Monstren, Chimären machen sich über sie her. Die aufgerissenen Münder der Opfer sollen Schmerzensschreie simulieren, aber sie wirken auf den heutigen Betrachter, als ob sie lachen oder in Lust und Verzückung geöffnet sind.
    Ich betrat das Münster, nahm meine Mütze ab und hielt den Kopf gesenkt, worauf sich augenblicklich die Schuldgefühle eines nicht praktizierenden Christen einstellten. Ich fühlte mich immer noch leer, aber es war leider nicht die Leere, die der Asket in seiner Verzückung fühlt. Ich spürte stattdessen Angst und Scham. Es waren nicht nur Schuldgefühle anderen Menschen gegenüber, die ich verraten hatte, all diese kleinen Heucheleien des Daseins, wenn man schon dadurch jemanden täuschte, dass man ihm die Hand auf die Schulter legte, ohne ihn wirklich zu mögen. Es waren vor allem Schuldgefühle mir selbst gegenüber. Was hatte ich Kümmerliches aus den Anlagen gemacht, die mir in die Wiege gelegt worden waren? Nichts als Kompromisse, nichts als Anpassung an die Gegebenheiten. Keine einzige dauerhafte Liebesbeziehung war mir gelungen. Meine Musikalität hatte zu ein bisschen Hausmusik auf der Querflöte geführt. Mein beruflicher Weg war wenig beeindruckend. Halb Psychologe, halb Polizist, nichts Richtiges. Ich war gescheitert. Meine Mutter hatte in allem Recht behalten. Ich war nicht erwachsen geworden. Und die Frau, mit der es möglich gewesen wäre, den ersten Schritt in Richtung einer Heilung zu tun, war verschwunden. Jetzt begriff ich endlich, dass Dale für mich mehr war als eine Geliebte. Sie und die Beziehung zu ihr waren der Weg, mich in ein neues Dasein zu begeben, in dem ich weniger stümperhaft mit mir selber umgehen würde. Ich würde mich endlich für etwas entscheiden können. Dale war meine Wüste, und nun war sie mir genommen.
    Ich war traurig, ja, verzweifelt, und ich wusste mir nicht anders zu helfen, als mich in dieser fast leeren Kirche in eine der vorderen Bänke zu knien und die Hände zu falten. Seit frühster Kindheit hatte ich nicht mehr gebetet, und was ich jetzt vor mich hin murmelte, war die schiere Gotteslästerung, denn ich verfluchte den Herrn in einer panischen Klage über die Sinnlosigkeit des Lebens, das er mir geschenkt hatte. Vater, murmelte ich, du hast dich nie gezeigt, du bist verduftet, du hast dich einfach aus dem Staub gemacht, du verdammter Feigling, du hast deinen Sohn allein gelassen mit sich und seinen Illusionen. Vater, du bist ein Herodes, der sein eigenes Kind tötet, aus Angst, es könnte ihn eines Tages beerben. Vater, ich hasse dich, ich will dich aber lieben können, du Pfeife, du mieser Patron, wehe ich finde dich eines Tages, ich werde dich mit meinen eigenen Händen erwürgen, ja, das wird mein erstes richtiges Gebet sein, wenn ich sie um deinen schlaffen Hals lege und zudrücke!
    Jemand berührte mich an der Schulter. »Was machen Sie da, junger Mann«, sagte eine freundliche Stimme. »Ist Ihnen nicht gut? Ich glaube, Sie brauchen frische Luft, Sie sehen ja ganz

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