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Rom kann sehr heiss sein

Titel: Rom kann sehr heiss sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Bo tius
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Wolkenkissen am Himmel aufgeplatzt. Seine Füllung rieselte unaufhörlich herab und erstickte die Geräusche, die Schatten, die dunklen Farben der Steine. Weihnachtsstimmung von einer besonderen Art kam auf. Es waren calvinistische Weihnachten, hart, spröde, von himmlischem Leistungsbewusstsein geprägt. Die verschiedenen Gassengemeinschaften versuchten sich gegenseitig mit ihren dezent und geschmackvoll geschmückten Weihnachtsbäumen auf den Straßen auszustechen.
    Ich ging über die Brücke und blieb wieder einmal am Fenster des Brückenhäuschens stehen. Von drinnen erklangen Fetzen von Klaviermusik, Akkorde, die etwas Verstörendes hatten, denn sie verschmolzen harmonische und disharmonische Elemente auf eine seltsame Weise. Ich kannte das Stück. Es war der Totentanz von Liszt. Aber diese Version klang merkwürdig verzerrt. Ich versuchte einen heimlichen Blick in den Innenraum zu tun. Wieder sah ich nur Hände auf den Tasten. Es waren vier Hände, zwei grobe, die zu einem Mann gehörten, und zwei feingliedrige Frauenhände. Mal ruhten sie eng nebeneinander, mal flogen und schwebten sie umeinander über der schwarz-weißen Tanzfläche der Tasten in einem Pas de deux, der innige Nähe und Verlorenheit zugleich auszudrücken schien. Die eine Frauenhand war beringt. Ein großer Stein, goldfarben schimmernd, gab ihr in ihrem Flug über die Tasten eine gewisse Schwere. Während ich lauschte, kam es mir vor, dass die Musik in die Aare hinabfloss und dort mit den Strudeln davonglitt.
    Ich klopfte, und ohne eine Reaktion abzuwarten, trat ich ein. Die beiden am Klavier beachteten mich nicht. Sie spielten wie besessen. Ich trat an eines der kleinen Fenster und sah in den Fluss hinab. Schließlich verstummte die Musik. Ich wandte mich um. Der Mann hielt die Frau im Arm. Beide küssten sich lange und ohne auf meine Anwesenheit zu reagieren. Sie trug eine Pelzkappe und einen Schleier, der nur ihre großen, grauen Augen und die weiße Stirn freiließ. Schließlich sah mich der Pianist an. »Ah, mein Gast von gestern«, sagte er. »Was verschafft mir die Ehre.« Ich zog das Foto von Dale heraus und hielt es den beiden hin. »Kennen Sie diese Person? Haben Sie sie in letzter Zeit gesehen?«
    Der Klavierspieler nickte. »Ja. Aber sie ist nicht mehr hier. Sie hat mich einmal besucht. Sie wollte bei mir Unterricht nehmen. Eine sehr musikalische Person, wie ich vermute. Sie ist in der Aare ertrunken, weil sie zu schwer war, um übers Wasser zu gehen. Sie wissen, wir sind eine todesverliebte Stadt. Jeder setzt hier seinem Leben freiwillig ein Ende.« Die verschleierte Frau kicherte und begann, das Hemd des Mannes aufzuknüpfen.
    Ich ging wortlos und stieg eine endlose Treppe hinunter zur Matte. Dann von dort zum schäumenden Wehr. Lange starrte ich in die rauschenden Wirbel. Das Wasser war gletschergrün, und da, wo es sich brach, tat sein Weiß fast den Augen weh. Ein magischer Sog ging von diesem wild dahinströmenden Fluss aus. Eine gefährliche Lust, sich hineinzustürzen. Mir war sentimental und traurig zu Mute. Ich dachte an all die Weihnachten der Kindheit, in denen es meine Mutter verstanden hatte, mir eine heile Welt voller Kerzenschimmer vorzugaukeln, in der es himmlisch duftete und die Abwesenheit des Vaters mir als eine überirdische Form der Nähe suggeriert wurde.
    Dann stieg ich eine Treppe zur Oberstadt hoch, die mir noch endloser vorkam. Als ich das Gebäude der Bibliothek gefunden hatte, bat ich den Pförtner, mich bei Doktor Gala anzukündigen. Er telefonierte und nannte meinen Namen. »Doktor Gala erwartet Sie«, sagte er. »Soll ich Sie hinbringen?«
    »Ich kenne den Weg bereits«, antwortete ich.
    Die Tür zu Galas Büro stand offen. Er saß am Schreibtisch. Dicht neben ihm eine Frau, deren Anblick mich sofort fesselte. Sie wirkte moribund. Ja, mir fiel kein besseres Wort für ihre Erscheinung ein. Während Franz Gala die Verkörperung der Lebensfreude war, schien die Dame neben ihm das Gegenteil zu repräsentieren. Sie war bleich, und ihre großen, rauchgrauen Augen lagen tief in den Höhlen.
    Gala stellte uns vor. »Dies ist Doktor Hieronymus aus Holland. Und das ist meine Frau Franziska.« Franziska Gala erhob sich und gab mir eine Hand, die so kühl und leblos war, als käme sie geradewegs aus dem Jenseits. Voller Interesse betrachtete ich sie. Ziemlich unverfroren, wie mir später bewusst wurde. Sie hielt meinem Blick stand, kühl wie eine Marmorstatue. Irgendetwas an ihr erinnerte mich an meine Mutter.

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