Rom kann sehr heiss sein
geradezu pedantischen Ausführlichkeit. Einmal, als wir oben auf der Galerie des Gebäudes standen, von wo aus man in die Halle mit den Lesetischen hinabsehen konnte, erzählte sie, dass sich von hier vor kurzem ein junger Mann zu Tode gestürzt habe. Er habe bei seinem Sturz ein Buch in der Hand gehalten und es im Todeskampf nicht losgelassen. Es sei so von Blut getränkt gewesen, dass man es habe ersetzen müssen. »Welcher Titel?«, fragte ich. »Der Prozess von Kafka.«»Ein düsteres Werk.« Von dieser Art waren unsere kurzen Dialoge.
Ich verabredete mich mit Julia für den nächsten Tag. Sie versprach, mir den Gurten, den Berner Hausberg, zu zeigen. »Man nennt ihn auch den Traumberg«, sagte Julia beim Abschied.
Am folgenden Tag trafen wir uns an der Talstation der Gurtenbahn. Dann fuhren wir die drei Minuten hinauf, ungefähr zweihundertsiebzig Meter. Der Berg machte seinem Spitznamen alle Ehre. Der Himmel war traumhaft blau. Die Berge des Berner Oberlandes kerbten den Horizont. Julia trug einen Mantel aus Kunstpelz. Ihre Hände steckten in einem Muff. Die runde Pelzmütze schien sie einem Roman von Dostojewski entliehen zu haben. Bern wirkte von hier oben mit seinem Münster, der Aare, seiner verwinkelten, wie mit Puderzucker bestreuten Dachlandschaft wie ein liebevoll gebautes Modell, mit dem ein Pensionär in unendlichem Fleiß akribisch seine Kindheitsträume verwirklicht hatte.
Wir wanderten den halben Tag durch den Schnee, meistens ohne zu reden. Einmal warf ich mich, einer plötzlichen Eingebung folgend, rücklings zu Boden und schlug wie ein sterbender Vogel halbkreisförmig mit den Armen. Als ich mich erhob, war der Abdruck eines Adlers entstanden. Julia lächelte, zog eine Hand aus dem Muff und klopfte mir den Schnee vom Rücken. Ich drehte mich um und sah sie an. Ihre Korallenlippen wirkten ein wenig blaustichig. Sie sah aus, als ob sie fror. In einem hilflosen Impuls von Menschenwärme versuchte ich sie zu umarmen. Das Ganze geriet zu einer Art Ringkampf, aus dem Julia siegreich hervorging, denn sie schob schließlich ihre Hände zurück in den Muff und stapfte durch den Schnee voraus in Richtung Bergstation der Gurtenbahn.
Von da an traf ich mich jeden Tag mit Julia zu endlosen Spaziergängen. Wir liefen das linke und das rechte Aareufer ab. Wir redeten wenig, wir berührten uns nicht, jedenfalls nicht absichtlich. Dennoch hatte ich das Gefühl, mich am Beginn einer Liebesgeschichte zu befinden, nur dass hier nicht die üblichen Rituale herrschten.
In der Silvesternacht trafen wir uns auf dem Münsterplatz. Er war voller Menschen. Alle tranken Sekt, und wenn die Flasche leer war, warf man sie hoch in die Luft, wobei sie auf einem immer größeren Scherbenhaufen vor dem Portal des Münsters zerschellte. Die Sache schien nicht ungefährlich. Auch Julia hatte eine Flasche Sekt dabei. Wir tranken abwechselnd in kleinen Schlucken.
Als die Glocken des Münsters das neue Jahr einzuläuten begannen und sich die Menschen auf dem Platz beglückwünschten und in den Armen lagen, umarmten auch wir uns. Julia gab mir einen Kuss auf die Wange. »Freund«, sagte sie, »ich wünsche dir...« Das waren ihre letzten Worte, denn sie brach zusammen. Blitzartig. Blut rann über ihre Stirn, schwarz wie Teer im fahlen Licht der Laternen. Ihre Augen standen offen und hatten diesen Blick, den ich bei Toten schon des Öfteren bemerkt hatte: grenzenloses Erschrecken, zu Eis erstarrt. Als ob sie etwas sehen würden, das unbeschreiblich war, endlos und Furcht einflößend.
Eine Flasche hatte sie an der linken Schläfe getroffen, ehe sie zu Boden gefallen und zerschellt war. Ein heftiger Knall, fast eine Explosion, Schaum, Spritzer, die ich schmeckte. Sie war voll gewesen, was ihr diese tödliche Wucht verliehen hatte. Ich hob das Etikett hoch, an dem Scherben klebten. Champagner Marke »Veuve cliquot«, ein wahrlich zynisches Wort in diesem Zusammenhang.
10. Rückkehr
Am folgenden Tag, dem ersten des neuen Jahres, musste ich mich einem langen Verhör unterziehen. Es waren die Beamten, die ich schon kannte. Sie schienen sich in ihrem Dialekt über mich lustig zu machen. Offensichtlich hielten sie mich inzwischen für eine äußerst suspekte Person. Auf die mehrfach wiederholte Frage, in welchem Verhältnis ich zu der Umgekommenen gestanden hätte, wiederholte ich ebenso oft: »Wir waren Freunde«, was offenbar anzügliche Bemerkungen hervorrief. Die Situation besserte sich, als wie zufällig die Staatsanwältin, die
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