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Rom kann sehr heiss sein

Titel: Rom kann sehr heiss sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Bo tius
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klar, sie hatte das Kommando in meinem Haus wieder übernommen.
    Ich holte Bier, bestellte Nasi Goreng. Dann erzählte ich von Dale, davon, dass sie verschwunden war, von den Galas, von der Frau im roten Kleid, von dem nackten Mann auf dem Autodach, von dem Götzen im Schrank, vom Apotheker, von Julia und ihrem schrecklichen Ende. Sie hörte aufmerksam zu. Schließlich sagte sie. »Gib mir eine Zigarette. Die Schachtel liegt unterm Bett. Zünde sie an, steck sie mir in den Mund.« Ihre welken Lippen schnappten nach der Zigarette wie nach einem Insekt. Sie inhalierte tief, hustete und fuhr fort zu reden: »Du hast also nichts erreicht. Du tappst völlig im Dunkeln, das hast du schon als kleiner Junge gerne gemacht. Du bist immer unter die Betten gekrabbelt und hast das Dunkel gesucht, als sei es etwas Materielles. Es ist völlig klar, dass Julia ermordet wurde. Das Ganze ist eine Verschwörung. Julia wusste etwas. Gewisse Leute wollten nicht, dass sie dir etwas verrät, weil sie sich in dich verliebt hatte.«
    »Mama«, sagte ich, »Ähnliches ist mir auch schon durch den Kopf gegangen. Obwohl ich nicht glaube, dass Julia in kriminelle Aktivitäten verwickelt war. Um was für eine Verschwörung soll es sich handeln? Ich habe keine Ahnung, und ich wüsste auch nicht, wen ich als Täter verdächtigen sollte.«
    »Und diese Franziska Gala? Sie gefällt mir nicht. Sie hat dich verspeist wie eine Essiggurke. Sie ist bestimmt die Anführerin. Jeder Mensch ist außerdem verdächtig, allein schon durch die bloße Tatsache, dass er existiert. Julia war in dich verliebt, sonst hätte sie nicht all diese langen Spaziergänge mit dir gemacht. Da du ausgesprochen langweilig bist als Gesprächspartner, mein Guter, weil du immer alles Wesentliche nicht aussprichst, muss sie schon sehr verliebt in dich gewesen sein. Und nun lass mich schlafen. Ich werde nicht mehr oft in den Genuss des Aufwachens kommen.«
    Je mehr sie verfiel, desto jünger wirkte sie. Ein kleines, eingetrocknetes Mädchen, eine Puppe aus Franziskas Sammlung, aus der allmählich das Holzmehl herausrieselt, so kam sie mir vor. Ich saß jeden Tag eine ganze Weile an ihrem Bett, das einst mein Kinderbett gewesen war, und hielt ihre Hand, die kalt und gewichtlos war. Wenn sie mir den Arm entgegenstreckte, sah ich, wie fleischlos er war. Vogelknochen, von einer dünnen, wie Seide glänzenden Haut überzogen. Ich spürte ein schwaches Zittern in ihren Fingern. Seltsam, je jünger sie mir schien, desto älter kam ich mir selbst vor, als ob die Zeit aus ihr herausrann und in mich hinein, eine Art Transfusion von Vergänglichkeit.
    Es gab keinen Zweifel, meine Mutter starb. Sie stand nicht mehr auf, verweigerte den Arztbesuch, Medikamente. Oft hielt sie die Augen geschlossen. Sie nahm kaum etwas zu sich, nur hin und wieder ein wenig Kognak, den sie aus einer Schnabeltasse trank, die ich ihr reichte. Immer wieder verlangte sie eine Zigarette, die ich ihr angezündet zwischen die Lippen schob. Ihre Sprache, ihr Geist waren immer noch klar. Sie inhalierte den Rauch jedes Mal sehr tief und blies ihn dann von sich, sodass meine Augen tränten und ich hus-ten musste. Einmal sagte sie: »Weißt du, mein Kleiner, wenn ich jetzt bald von dir gehe, dann musst du endlich allein klarkommen auf dieser Welt. Sie ist böse, und du bist meiner Meinung nach viel zu naiv, um all die Fallen zu bemerken, die überall im Gebüsch versteckt sind. Die Sache in Bern zum Beispiel will mir überhaupt nicht gefallen. Fahr bloß nicht wieder hin.«
    Einmal lag sie nackt im Bett. Die Decke hatte sie von sich geworfen. »Mir ist so unerträglich heiß«, flüsterte sie. »Ich verbrenne noch.«
    Ich erschrak über ihren Anblick. Diese gelbliche Haut, diese Schamhaare, buschig und blond, als hätten sie es nie mit der Zeit zu tun gehabt. Diese Brustwarzen wie alte Lederknöpfe. Plötzlich fiel mir ein, dass ich sie zuletzt nackt gesehen hatte, als ich zwei oder drei Jahre alt gewesen war. Ich sah ihre runden Brüste vor mir, nach denen ich gegriffen hatte wie nach Bällen, mit denen ich spielen wollte.
    Die Tage, Wochen verstrichen. Während dieser Zeit wuchs mein Verlangen, Dale wieder zu sehen. Ich schlief auf der Matratze im leeren Schlafzimmer, die ich mit ihr geteilt hatte. Ein paar Mal wachte ich mitten in der Nacht auf, weil ich glaubte, ein Mensch habe sich neben mir bewegt. Ansonsten war ich Krankenpfleger, wusch meine Mutter zweimal am Tag, aß in der Küche, trank abends, wenn sie schlief, im

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