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Rom kann sehr heiss sein

Titel: Rom kann sehr heiss sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Bo tius
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erfüllte nur seine Pflicht.
    Am Tage der Beerdigung entbehrte ich zum ersten Mal meinen Vater wirklich. Warum war er nicht da? Jetzt war seine Stunde. Er hätte als Erster hinter dem Sarg hergehen müssen. Nun musste ich es tun. Es regnete immer noch in Strömen. Nur wenige Leute waren gekommen, die meisten waren Kollegen von mir. Meine Mutter hatte keine Freunde gehabt, was mich nicht weiter wunderte.
    Der Pfarrer hielt eine kurze, unpathetische Predigt in der kleinen Grabkapelle. Er sah mir dabei in die Augen, und ich spürte, dass er auf meine atheistischen Gefühle Rücksicht nehmen wollte. Dann rollte der Sarg auf einem Wagen mit dicken Gummirädern durch den Matsch. Ich sah auf meine Fußspitzen, sah, wie sie im Schlamm versanken. Die ganze Zeit versuchte ich vergeblich, mir das Gesicht der Toten vorzustellen.

2. Aufbruch gen Süden

    Ich hatte das Gefühl, dass das Leben nur noch schwarze Tage für mich hatte. Vielleicht war ich nichts anderes als ein Opfer der Nemesis, dieser rätselhaften Kraft, die unserem Schicksal schuldhafte Strukturen verleiht und darin dem Karma des Hinduismus ähnelt. Wenn ich mich jedoch nach meinen persönlichen Vergehen fragte, kamen sie mir allzu mittelmäßig vor, um diese Sicht der Dinge zu akzeptieren.
    Ich ging in die »Blaue Maus«, wie immer vor einem großen Aufbruch. »Na, Piet?«, sagte der Wirt. »Du siehst verdammt gut aus. Irgendwie befreit. Übrigens mein herzliches Beileid.« Er schüttelte mir die Hand. »Deine Mutter war eine große Persönlichkeit. Ich habe sie nur ein-, zweimal erlebt, aber sie hat mich jedes Mal beeindruckt. Der arme Sohn, habe ich gedacht. Er hat es schwer, etwas anderes zu sein als ihr Kind. Jetzt hat sie dich also notgedrungen endgültig entbunden, mein Guter. Komm, trink das.«
    Er schob mir ein randvolles Glas hin. Der Genever hatte noch nie so geschmeckt wie jetzt. Wie Weihwasser. Irgendwie klar und entscheidend. »Man hat mich entlassen, in die Wüste geschickt, wie man so schön sagt«, stieß ich hervor.
    »Fantastisch, Piet, was du da sagst. Hier, trink noch einen auf meine Rechnung.«
    Er schenkte unser beider Gläser randvoll. »Du stehst also vor einem echten Neuanfang. Ich beneide dich, alter Junge. Du öffnest eine Tür und gehst hinaus, einfach so. Und nichts hält dich zurück. In meinen Augen bist du nun ein echter Entdecker. Alles, was du ab morgen tust, wird eine Entdeckung sein, selbst so banale Dinge wie eine Zeitung kaufen oder eine Fahrkarte.«
    »Ich fahre nach Rom.«
    »In die Ewige Stadt. Piet, ich gratuliere und erteile dir hiermit Absolution. Und warum ausgerechnet dorthin?«
    »Weil mein Vater vielleicht dort lebt. Und meine Freundin unter Umständen auch. Jedenfalls behauptet das die Berner Polizei.«
    Er hob sein Geneverglas und stieß mit mir an. »Hieß sie nicht Dale MacDingsbums? Ihr wart mal beide hier. Eine verdammt schöne Frau. Ich kann dich verstehen. Wenn du sie findest, solltest du sie auf der Stelle heiraten. Und wenn du deinen Vater findest, bringe ihn um.«
    Ich ging zum Bahnhof und setzte mich an jenen Tisch, an dem ich zuletzt mit Dale zusammen gewesen war. Die Erinnerung an sie war seltsam blass und unvollständig. Nur diese Milchstraße von Sommersprossen sah ich deutlich vor dem Hintergrund der weißen Tischdecke, auf der mein Bierglas stand.
    Um 19 Uhr 21 fuhr mein Zug. Eine Reise von über 23 Stunden stand mir bevor. Wenigstens zwischen Bremen und München würde ich schlafen können, denn ich hatte ein Abteil im Nachtzug reserviert. Gewiss, ich hätte bequemer fliegen können. Aber nicht nur meine Flugangst hielt mich davon ab. Es erschien mir auch als unangemessen, meinen Schritt in ein neues Leben zeitlich derartig kurz zu bemessen. Ich saß in meinem Schlafwagenabteil und versuchte mir über irgendetwas klar zu werden. Ich war mir nicht sicher, worüber. Ich lauschte auf meine innere Stimme, aber sie war so schwach, dass ich nicht allzu viel verstand. Einmal glaubte ich den Satz zu hören: »Hör endlich auf mit Kompromissen. Mach Nägel mit Köpfen.« Dann Stille. Nur das Geräusch der Räder auf den Schienen.
    Am folgenden Vormittag tauchten die Alpen auf, und ich geriet in euphorische Stimmung. Ihre Schneegipfel kamen mir vor wie Symbole der Unberührtheit, der existenziellen Jungfräulichkeit. Als Arthur Rimbaud im Jahre 1878 über diese gewaltigen Berge, die einem Flachländer wie mir immer wie theatralische Bühnendekorationen vorkommen, in den Süden ging, schloss er beim

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