Rom kann sehr heiss sein
des Alltags, dieser Dauerchoral menschlicher Existenz, der draußen stattfand, beherrschte für mich das Klangbild. Ich wusste, da draußen wurde nicht besser, nicht schlechter, nicht sinnvoller, nicht sinnloser gelebt, als ich es hier drinnen vermochte, und das tröstete mich, während ich auf dem schmalen Bett lag und einer Fliege zusah, wie sie einem Riss im Putz der Decke folgte.
Jedes Mal gegen Abend veränderte sich die Geräuschkulisse. Sie wurde lauter, euphorischer, aggressiver. Fetzen von Akkordeonmusik erklangen, immer wieder das gleiche Stück, »Bessame mucho«, und jedes Mal nur die ersten sechs, sieben Takte. Anfangs sah ich hinaus und bemerkte, dass der Musiker vor jedem Straßenlokal spielte und so früh abbrach, um Geld einzusammeln. Es schienen mehrere Akkordeonisten zu sein, und alle machten es genauso, alle spielten den Anfang des gleichen Stücks. Niemand schien sich an diesem Ritual zu stören. Überhaupt, wie eng Leben und Rituale zusammengehörten, erfuhr ich in Rom besonders intensiv. Das galt für die Zeit, in der man zum Essen ging, genauso wie für die Abfolge bestimmter Speisen, Antipasti, primi piatti, secondi, dolci. Das Leben war ein Rausch der Wiederholung. Die jungen Mädchen trugen in sich bereits die Mama, die eines Tages den engen Mini gegen den weiten schwarzen Rock tauschen würde. Die Kinder benahmen sich wie Greise und die Greise wie Kinder. Die Jünglinge wirkten wie Börsenmakler und die Börsenmakler wie Engel. Alles war anders, und das andere war immer gleich.
Endlich erwachte in mir ein wundersamer Hang zum Nichtstun. Wollte ich nicht meine Freundin suchen, meinen Vater ausfindig machen? Das war richtig, doch es interessierte mich immer weniger. Dale würde schon im richtigen Zeitpunkt vorbeikommen. Ich konnte stundenlang draußen auf einem Stuhl sitzen mit einer Zeitung, die ich nur mühsam verstand. Die Licht- und Schattengrenze wanderte über meinen Tisch wie der Zeiger einer Sonnenuhr. Einmal zog ein alter Krüppel einen Leiterwagen durch die Gasse, auf der eine große Kiste mit je einem Schallloch auf jeder Seite stand. Laute, verzerrte Klänge drangen daraus hervor. Operetten, Opern, Puccini, Rossini, Stimmen, Orchester, von einer verborgenen Autobatterie gespeist. Im Fahrwasser dieses römischen Kampfwagens der Musik quälte sich ein Taxifahrer durch das Revier. Ich warf eine Münze hinunter. Der Krüppel zog seine Mütze und bedankte sich mit einer tiefen Verneigung, während der Taxifahrer seine Hupe im Rhythmus einer Arie bediente.
Es dauerte weitere Wochen, bis ich in all diesem infernalischen Lärm die tiefe Stille entdeckte, die ihn grundierte. Eine unheimliche Stille, die gegen Morgen zwischen vier und fünf Uhr am stärksten war, wenn die Stadt schlief. Mehrmals schlich ich um diese Zeit durch die Straßen, überquerte die müllübersäten Plätze, setzte mich auf eine Bank und genoss die Ruhe. Gegen sechs Uhr kamen die ersten Geräusche des Lebens zurück. Es waren die Lieferwagen der Bäcker und die Müllfrauen und Straßenkehrerinnen, die mit ihren Wagen, auf die Mülltonen montiert waren, und Schaufel und Besen unterwegs waren. Fast immer auffallend hübsche, junge Frauen. Sie sahen eher wie Models oder Filmschauspielerinnen aus, und ich fragte mich, was sie diesen trostlosen Beruf ergreifen ließ.
Meine alte Krankheit brach wieder aus: Ich verliebte mich in eines jener Müllmädchen. Frühmorgens erschien es regelmäßig in der Via del Pasquino und reinigte den gleichnamigen Platz so liebevoll, als handele es sich um seine private Küche. Wenn ich es vom Fenster aus erspähte, eilte ich hinunter und schlenderte über den Platz, als sei ich auf der Suche nach einem Zeitungskiosk, der vielleicht um diese Zeit schon offen war.
Die Statue des Pasquino war derzeit übersät mit Anklagen gegen den Papst. Auf einem der Pamphlete war er als Knochenmann mit Sense und Mitra dargestellt. Es ging um die angeblich Krebs erregende Strahlung der vatikanischen Sendemasten, die sich mitten in einem dicht besiedelten Stadtteil erhoben und den globalen Missionsgedanken in den Äther schickten. Auf dem Pflaster davor lagen immer besonders viele Zigarettenkippen, weil sich tagsüber hier die Passanten drängten, um die Zettel zu lesen. Entsprechend lange hielt sich mein Müllmädchen dort auf. Als ich eine Kippe entdeckte, die sie übersehen hatte, hob ich sie auf und warf sie vor ihren Augen in den Abfalleimer. Sie schenkte mir einen jener tiefen Blicke, wie sie nur
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