Rom kann sehr heiss sein
aufgezwungen, Pietro.«
»Ich heiße Piet«, sagte ich. Es klang wie der hilflose, fiepende Ton eines aus dem Nest gefallenen Vogeljungen. »Warum hast du uns damals verlassen? Mutter hat behauptet, es war wegen einer Frau, einer italienischen Krankenschwester.«
»Jaja, sie hieß Sofia. War ein nettes Ding. Aber sie war nicht der Grund, sie war eher eine Art Begleiterscheinung. Der eigentliche Grund war deine Mutter. Sie hat die Liebe nicht zugelassen. Weder meine Liebe zu ihr, noch zu dir. Jaja, sie war eifersüchtig auf dich, auf meine Gefühle für dich. Sie wollte immer alles im Griff haben, auch die Herzen. Ich wusste irgendwann, dass ich abhauen musste, ein neues Leben beginnen, ehe es zu spät war. Glaub mir, das war schlimm für mich. Als ich dich zum letzten Mal mit Bewusstsein sah, hast du geschlafen. Ich legte meine Hand auf deine heiße Stirn. Du hast wohl geträumt, denn deine Lippen zuckten. Du hast im Traum geredet. Ich ging mit dem Gefühl, ein Mörder zu sein.«
Ich merkte plötzlich, wie mir die Tränen die Wangen he-runterliefen.
»Mutter ist tot!«, stieß ich hervor.
Er lächelte vergnügt. »Tatsächlich? Das wundert mich. Bin ich doch immer davon ausgegangen, dass sie mich überlebt. Deine Mutter ist – oder vielmehr war – ein Monstrum an Vitalität, aber das weißt du ja besser als ich. Sie hätte Papst werden sollen. Es gab nichts, wofür man sich nicht von ihr rechtfertigen musste. Selbst wenn es regnete, verstand sie es, bei mir Schuldgefühle deswegen auszulösen. Du hast vorhin selbst gehört, was ich von Schuldgefühlen halte. Leider habe ich dir gegenüber immer noch Schuldgefühle, aber vielleicht gehen sie ja weg, wenn ich dich näher kennen lerne.«
Widerwillig registrierte ich, dass er mir mit seinen Zynismen sympathisch zu werden begann. »Wie hast du mich gefunden? Hat sie gequatscht?«
Ich nickte.
»Altes Luder. Wir waren damals übereingekommen, die Sache für immer vor dir geheim zu halten. Ich wollte ein völlig neues Leben beginnen. Dafür habe ich auf das Haus verzichtet, nicht wegen dir! Jetzt bist du da und zwingst einen alten Mann, der längst Frieden gemacht hat mit der Vergangenheit, sich zu erinnern. Ich werde bald sterben. Die Ärzte haben mich aufgegeben. Ich habe ein schlechtes Blutbild. Wahrscheinlich Knochenkrebs. Sei so nett und verschwinde jetzt. Ich muss schlafen. Ich muss sterben üben. Komme morgen wieder und bringe einen guten Wein mit. Dann reden wir weiter.«
Er schloss die Augen. Eine Welle von Sohnesliebe überflutete mich. Sie musste aus einem riesigen Stausee verdrängter Gefühle stammen, dessen Mauer jetzt gebrochen war. Ich ging. Als ich an der Rezeption vorbeikam, merkte ich, wie mir immer noch Tränen die Wangen herabliefen.
5. Falsini
Ich sah meinen Vater in den folgenden Wochen fast jeden Tag, als müsste ich verloren gegangene Zeiten nachholen. Er war ein Schwadroneur von hohen Graden. Er redete unaufhörlich, wobei auffällig war, dass er keinerlei Unterschiede zwischen Feststellungen und Behauptungen machte. Er war ein Charmeur und ein genialer Hypochonder dazu. Keine Schwester, ob jung oder alt, konnte sich seinen mitunter handfesten Späßen entziehen, ebenso wenig wie seinen Anfällen von Wehleidigkeit und tiefsten Depressionen. Sie schienen es sogar zu genießen, Ziel seiner häufig ziemlich plumpen Anspielungen und sexuellen Tätlichkeiten zu sein, und sie kümmerten sich schon im nächsten Augenblick rührend um ihn, wenn er wie aus heiterem Himmel über Schmerzen in der Leistengegend zu jammern begann. Dieser Mann schien dumm und klug in einem zu sein, überheblich und bescheiden, hellsichtig und verstiegen in seinen Ansichten. Dabei hatte er ein ziemlich sicheres Urteilsvermögen, wenn es um die Einschätzung von Personen ging. Seine politischen Ansichten waren stockkonservativ mit gewissen geradezu anarchistischen Nebentönen. Er war ein Anhänger von Mussolini und Marx, wie er selbst sagte. Den derzeitigen Regierungschef mochte er nicht, weil er seiner Meinung nach die billige Kopie eines römischen Imperators war, ein »Gummicaesar«, wie er sich ausdrückte. Wenn er in Stimmung war, trug er seine Uniform und gebärdete sich wie der Kapitän eines Schlachtschiffes. Er salutierte vor den Putzfrauen, kommandierte Assistenzärzte, schwadronierte, stolzierte, von einer Wolke Uringeruch umgeben, durch die Flure und verlangte mehrfach die sofortige Versenkung aller Gebäude rechts und links der Tiberinsel durch eine
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