Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rom kann sehr heiss sein

Titel: Rom kann sehr heiss sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Bo tius
Vom Netzwerk:
mein eigener Vater bei meinem Techtelmechtel mit einem jungen Mädchen beobachtet?
    Als ich das Gebäude betrat, schlug mir ein typischer Geruch entgegen, in dem sich Verwesung, Kantinenessen und Desinfektionsmittel die Waage zu halten schienen. Oder überwog da nicht ein Duft nach frischem Espresso? Ich fragte an der Information, wo ein Signor Dick Hieronymus läge. Man wollte mir keine Auskunft geben. »Ich bin sein Sohn«, sagte ich. Das Wort »Sohn« kam mir schwer über die Lippen. Wie ein Fremdwort aus einer unentschlüsselten Sprache. Ich musste meinen Personalausweis vorlegen. Dann erst erfuhr ich die Station. Es war die Urologie.
    Ich nahm den Fahrstuhl in den entsprechenden Stock. Ein langer Flur, trostlos, bedrückend, wie alle Flure sämtlicher Krankenhäuser dieser Erde. Ich glaube, es ist ein Flur, der sich um den ganzen Erdball erstreckt, von Hospital zu Hospital, endlos und trist, eine einzige, linoleumbedeckte Schneise des Sterbens. Überall waren Leute. Patienten, die in Rollbetten auf dem Flur lagen, Besucher mit Blumensträußen, ganze Familien, die ein Bett umstanden, dazwischen Ärzte in weißen Kitteln, Schwestern, die überirdisch schön waren, wie Engel, die nichts Irdisches befleckt.
    An einer Stelle war besonders viel los. Eine Menschentraube umstand einen Mann, der auf einem Stuhl saß. Es war der Mann, der Nina und mir vom Fenster aus nachgerufen hatte. Er trug eine mehrfach geflickte beige Uniformjacke mit goldenen Ärmelstreifen und anderen Emblemen und hatte trotz der Hitze eine Schirmmütze auf dem Kopf. In der einen Hand hielt er eine Krücke, mit der anderen gestikulierte er wie ein Dirigent, der ein ganzes Orchester in seiner rhythmisierenden Gewalt hat. In seinem Schoß ruhte ein durchsichtiger Beutel, in dem zu seinem Gefuchtel eine uringelbe Flüssigkeit schwappte. Offenbar trug der Mann ein Katheter. Der Mann war groß und mager, von einer Schlankheit, der man die ehemalige Leibesfülle noch anmerkte, sein Gesicht das eines alten Menschen, in dem jedoch eine seltsame Jugend blühte, denn seine Gesichtshaut war erstaunlich glatt, die Backen rosig. Je näher ich kam, umso größer wurde die Ähnlichkeit des Mannes mit dem Foto, das bei uns zu Hause gehangen hatte. Doch irgendwie sah er jünger aus, weniger krank, weniger ausdruckslos. In mir tobte ein heftiger Widerstreit der Gefühle. Ich wollte auf ihn zueilen, ihn umarmen in einer dramatischen Geste, aufgesparte Sohnesliebe zeigen, weinen, lachen, und zugleich wollte ich davonrennen, um mir die Peinlichkeit einer Erkennungszeremonie zwischen Leuten zu ersparen, die nichts außer dem Namen und ein paar Ähnlichkeiten im Genom verbindet.
    Mein Vater beachtete mich mit keinem Blick. Alle lauschten ihm, hingen förmlich an seinen Lippen. Anfangs verstand ich nicht viel von dem, was er sagte. Doch als ich mich auf seinen Akzent eingestellt hatte, vermochte ich seinen Worten zu folgen. Es ging um philosophische Fragen, um den Zufall, um die Unendlichkeit, um den Tod und die Möglichkeit, ihn zu besiegen. »Die meisten von uns sterben, weil sie in ihrem Leben gesündigt haben«, verkündete er lautstark. »Wir sind selber schuld, wenn wir an der Sünde verrecken. Die wenigsten verstehen es, die Sünde als das zu nutzen, was sie eigentlich ist, ein Lebenselixier. Sobald man Schuldgefühle entwickelt, hat man verloren. Ich sage euch, selbst eine harmlose Erkältung basiert weniger auf Zug oder schlechtem Wetter als auf Schuldgefühlen. Es gibt nichts, was die Immunkräfte mehr schwächt als Skrupel.«
    Er machte eine Pause, eine Kunstpause offenbar, um die Wirkung seiner Ausführungen auf die Umstehenden zu genießen. Dann fuhr er fort: »Bei etlichen armen Teufeln aber kann die Todesursache auch an einer besonderen Programmierung der Chromosomen liegen, genauer der Chromosomenenden, den Telemeren. Sie fransen immer mehr aus, je älter wir werden, ganz egal wie ungesund wir leben. Leute, die an ausgefransten Chromosomenenden sterben, sterben gewissermaßen eines natürlichen Todes, bewirkt von der genetischen Konstruktion des Lebens. Eine höchst lächerliche Sache, denn sie können wie die Heiligen leben und dennoch wie arme Sünder verrecken. Ich für meine Wenigkeit gehöre nicht zu ihnen. Ich sterbe am Rotwein und an den Frauen. Ich gieße ständig Rotwein nach, um all das Herzblut zu ersetzen, um das mich einst gewisse Damen schröpften. Eine Form der Transfusion, die die Leber mit Schwellung quittiert, die letzte Schwellung eines

Weitere Kostenlose Bücher