Rom kann sehr heiss sein
Kunstgeschichte studierte. Also verstand sie vermutlich viel mehr von der Sache als Einar. Wollte sie ihm nicht die Show stehlen? Plötzlich sagte sie: »Eigentlich ist Masaccio der wahre Erfinder der räumlichen Malerei. Er brachte die dritte Dimension in die Malerei. Als er starb, war er erst achtundzwanzig. Ich glaube, mit der Entdeckung der Zentralperspektive begann eine neue Epoche des Seelenlebens der Menschen. Die moderne Form der menschlichen Tragik. Wenn man die flächigen Bilder des Mittelalters betrachtet, begreift man etwas von der positiven Mentalität dieser Leute, die auch grausame Motive wie den gefolterten und blutenden Jesus mit kindlicher Lebensfreude gestalteten. Auch Kinder kommen bekanntlich ohne Zentralperspektive aus, solange sie sich noch ihren natürlichen Blick bewahren. Die Tiefe des Raumes ist der neue Abgrund, der sich im 15. Jahrhundert auftut und in den wir noch heute hinabstürzen.«
Einar und ich starrten Nina an wie ein Wundertier. Sie lachte kurz auf: »Da sieht man mal, wie dumm und arrogant ihr Männer seid. Ihr glaubt einfach immer noch, Frauen haben nichts im Kopf, wenn sie gut aussehen.«
Wir wussten beide, dass ein Protest unsere Lage nur noch schlimmer gemacht hätte. »Vorurteile«, murmelte Einar, »haben die gute Eigenschaft, das Gemüt zu wärmen, denn sie isolieren gegen die kalte Wahrheit. Kommt jetzt, Freunde, es fängt gleich an.«
Das Konzert fand in einem der oberen Säle des Palastes statt. Die Wände waren bedeckt mit den Bildern der Gemäldesammlung der Gebrüder Spada. Das meiste war zweitklassig. Bischöfe, Heilige, antike Götter starrten uns an. Süffisant, spöttisch, als genössen sie es, zwischen Tod und Leben eine Daseinsform erlangt zu haben, die sie gegen die Unbilden der Existenz genauso schützte wie gegen die der Nichtexistenz.
Wir saßen eng nebeneinander auf grazilen Stühlen. Der Saal füllte sich mehr und mehr. Vor uns ein kleines Podium mit einem Hocker und einem Notenständer. Das Raunen und Wispern legte sich, als der Künstler erschien. Ein junger Mann, der sein Instrument trug wie eine Mutter ihr Kind. Er setzte sich, wobei er die Schöße seines Fracks betont sorgsam zur Seite streifte. Dann schob er mit dem Fuß den Notenständer weg, wie um zu demonstrieren, dass er derlei Hilfsmittel verabscheute. Er nahm den Bogen, legte die Hand locker an den Hals des Cellos, warf uns, die wir vorne saßen, einen fast flehenden Blick zu und begann.
Er spielte mit geschlossenen Augen, wie in Trance. Die Musik wirkte anfangs streng, abstrakt, fast wie die Strafpredigt eines Mathematikers. Dann aber begann sie sich mehr und mehr in etwas Gegenständliches zu verwandeln, das man spüren, sehen konnte. Ich schloss gleichfalls die Augen, hörte Rauschen, Blätter, Baumwipfel, sah die Stämme und Kronen von mächtigen Bäumen in ihrer verschlungenen Geometrie. Schwarz und schlank wuchsen sie aus dem Parkett. Ein ganzer Wald, der uns immer dichter umgab. Es wurde dunkel. Der Wind zerrte an den Wipfeln, die Stämme ächzten, im Unterholz knackte es, jemand floh. Es war eine Frau. Ich folgte ihr, sah, wie sie sich nach mir umdrehte. Es war Dale. So deutlich hatte ich sie lange nicht mehr vor mir gesehen. Bis in jede kleinste Einzelheit ihres Gesichtes. Mein Herz schlug heftig. Ich öffnete die Augen. Der Cellist spielte immer noch. Ich wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Neben mir war ein leerer Stuhl. Einar beugte sich zu mir, legte die Hand an mein Ohr und flüsterte: »Sie ist vor zehn Minuten gegangen. Sie scheint einen Anruf auf dem Handy erhalten zu haben. Es muss auf Vibrationsalarm geschaltet gewesen sein. Ich hab mich schon gewundert, warum sie es das ganze Konzert über verstohlen in der Hand gehalten hat. Wahrscheinlich erwartete sie einen Anruf. Jedenfalls ist sie plötzlich aufgestanden und ganz schnell verschwunden.«
Wir hörten das Konzert zu Ende. Es dauerte tatsächlich zweieinhalb Stunden. Eine Pause gab es nicht. Alle waren erschöpft, doch der Applaus brandete stark und anhaltend auf. Der Musiker nahm ihn mit geschlossenen Augen und ohne sich auf seinem Stuhl zu rühren entgegen. Ich hatte Mühe, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Einar hakte mich unter und zog mich zum Ausgang. Im Innenhof stand ein Polizeiauto mit blauem Drehlicht. Der Durchgang zum Seitenhof war mit einem Plastikband abgesperrt. Einar ging zu einem der Polizisten und zeigte seinen Dienstausweis. Wir wurden nach einigem Palaver durchgelassen.
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