Rom kann sehr heiss sein
Palazzo Farnese, doch welch anders gearteter Geist herrscht in ihm! Nicht Klarheit der Linien und Harmonie der Flächenaufteilung sind hier das vorherrschende Gestaltungsprinzip, sondern Illusion, Täuschung. »Die Gebrüder Spada«, erklärte uns Einar, »beides Kardinäle, die ihn im 17. Jahrhundert bewohnten, müssen seltsame Vögel gewesen sein. Sie verpflichteten die großen Bildhauer und Baumeister Bernini und Borromini, um den Palast nach ihrem Geschmack umzubauen. Es war ein Geschmack, der mit der optischen Täuschung spielte. Schein triumphiert über Wirklichkeit, die Wirklichkeit selbst wird zur Täuschung. Ein typisches Merkmal der Dekadenz. Wir könnten uns fragen, was diese beiden Männer mit ihrem Faible für Scheinwelten ausgerechnet zu Kardinälen werden ließ. Ich meine, sie hatten das Prinzip der Frömmigkeit begriffen. Denn ist nicht der Schein das Wesen jeder Religion? Die Simulation? Gibt es eine größere Projektion als die Gottes? Gott hat man nie gesehen, dennoch ist er allgegenwärtig, und das seit Jahrtausenden!«
Nina hakte sich unter bei mir. Ich spürte, dass sie zitterte. Einar führte uns in einen Seitenhof des Palazzos. Dort öffnete sich ein langer Säulengang mit einem kassetierten Tonnengewölbe, der in einen zweiten Hof mündete, vor dessen rückwärtiger Wand in großer Entfernung eine ungefähr zwei Meter große Statue auf einem ebenso hohen Sockel stand. Ein Führer hatte uns begleitet. Einar flüsterte mit ihm und steckte ihm einen Geldschein zu. »Dies ist Borrominis Kolonnade«, sagte Einar. »Es ist ein Laubengang der besonderen Art. Im 17. Jahrhundert entstanden, galt er damals als echtes Wunder. Die Leute sind in Scharen hierher gekommen, um sich dieser unglaublichen Wirklichkeit auszusetzen. Viele sind zusammengebrochen, weil sie diese Form der Widerlegung der gewohnten Realität nicht ertrugen. Alles ist relativ, zeigt Borromini mit seinem Meisterwerk. Egal ob groß oder klein, gut oder böse, Gott oder Teufel, schön oder hässlich, Liebe oder Hass. Die Menschen verloren den Halt angesichts der hier so deutlich demonstrierten Relativität der Verhältnisse. Sie stürzten in einen Abgrund aus Zweifeln. Was war noch verlässlich? Auf welchem Boden welcher Tatsachen konnte man sich überhaupt noch bewegen, ohne einzubrechen? So geht es uns auch heute noch, so abgebrüht wir inzwischen auch sein mögen, was optische Tricks anbelangt.«
»Ich verstehe nicht, was an diesem Gang so besonders sein soll«, bemerkte ich.
»Wartet. Schließt eure Augen. Bedeckt sie mit der Hand. Öffnet sie erst wieder, wenn ich rufe.«
Wir gehorchten. Ich hörte, wie sich Schritte entfernten. »Jetzt könnt ihr die Augen wieder aufmachen«, rief Einar. Im ersten Moment sah ich ihn nicht. Der Führer lehnte an der Wand und rauchte eine Zigarette. Nina deutete in den Säulengang hinein. Der Anblick war unglaublich. Einar stand im anderen Hof neben der Statue. Er überragte sie ums Doppelte, ein Gigant, ein Goliath mit mächtigen Gliedern, ein Koloss, der nun die Arme ausbreitete und sich langsam näherte. Je näher Einar kam, desto kleiner wurde er. Er schrumpfte mit jedem Schritt und stand schließlich in seiner normalen Größe vor uns. »Kommt, ich zeige euch des Rätsels Lösung.« Einar nahm Nina bei der Hand und zog sie hinter sich her, in die Kolonnade hinein. Ich folgte. Dabei bemerkte ich, dass die Säulen immer kleiner und dünner wurden. Der Boden stieg schräg an. Der Gang wurde immer enger. Schon nach wenigen Schritten mussten wir uns bücken. Dann erreichten wir den kleinen Hof mit der Statue. Sie war höchstens einen Meter hoch.
Wir gingen zurück. »Der Gang ist ganze neun Meter lang. Durch das gleichmäßige Schrumpfen aller Details und Maße nach den Gesetzen der Zentralperspektive entsteht jedoch der Effekt, dass er viermal so lang und alles in seinem Hintergrund daher viermal so groß wirkt wie in Wirklichkeit. Je näher ich euch wieder kam, umso geringer wurde meine Größe verzerrt, umso mehr nahm ich meine alte, wirkliche Größe an. Die müssen damals ganz andere Inszenierungen mit diesem Trick veranstaltet haben. Borromini hat die Möglichkeiten der Zentralperspektive wirklich genial genutzt. Sie ist an sich schon Lüge, denn sie gaukelt Dreidimensionalität in der Zweidimensionalität vor. Erfunden wurde sie übrigens von Brunelleschi. 15. Jahrhundert. Seitdem ist Italien das gelobte Land der Illusionen.«
Nina verhielt sich still. Ich wusste ja, dass sie
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