Rom kann sehr heiss sein
Mehrere Leute standen in Borrominis Kolonnade. Die weiter entfernten Personen wirkten unnatürlich groß. Scheinwerfer beleuchteten ein schreckliches Bild. Vor der Statue am Ende des Säulengangs lag ein Monstrum. Wir eilten näher und sahen ein verrenktes, zuckendes Wesen, das wie ein Greis aussah, nackt und mit stark hervortretenden Gelenkknochen, die Haut blau geädert, die Augen gelblich trüb. Ein Arzt beugte sich über das Wesen. »Es lebt und es ist dennoch klinisch tot«, sagte er, an Einar gewandt. »Das Herz schlägt, aber es gibt keine cerebralen Reaktionen mehr. Ein lebender Muskel ohne Kontakt zur Außenwelt. Sehen Sie, meine Herren.« Er schlug die Hände über den offenen Augen des Monstrums zusammen. Nichts. Nur ein furchtbares, geistloses Starren.
9. Die Audienz
Einar und ich saßen in einer kleinen Bar in der Nähe meiner Wohnung und frühstückten. Wir sprachen über das Monstrum aus Borrominis Kolonnade. Ich erzählte Einar von Hieronymus Bosch, von seiner monströsen Fantasie, seinen Chimären, seinen Höllenvisionen, die auf uns heute so modern wirken. »Ich wundere mich, dass nichts in der Zeitung steht«, sagte Einar. »Ich hätte erwartet, dass sie etwas über eine Missgeburt berichten, die jemand ausgesetzt hat. An einer besonders spektakulären Stelle, um Aufmerksamkeit zu erregen. Hat sich Nina bei dir gemeldet?«
»Nein. Irgendetwas beunruhigt mich, was sie anbelangt. Sie steht unter enormem Druck.«
»Hier, das dürfte dich interessieren. Hab ich heute früh aus Helsinki bekommen.« Er schob mir eine Art Metallstreifen mit einer langen eingravierten Kombination aus Zahlen, Strichen und Buchstaben zu.
»Es war in dem Metallstück. Ich weiß nicht, wie die Kerle das herausbekommen haben. Es war eingegossen. Von außen nicht zu sehen. Eine geheimnisvolle Information. Es muss irgendein Code sein, der für gewisse Leute sehr wichtig ist. Hier, schau's dir an! Nimm meine Lupe zu Hilfe.«
Ich hielt den Streifen schräg gegen das Licht, das die Sonne durchs Fenster warf, und musterte ihn durch Einars Klapplupe. »Es erinnert an einen Balkencode. Außerdem lese ich die Buchstaben A, C, T und G in verschiedenen Kombinationen. Alles Dreiergruppen. Irgendwie kommt mir das bekannt vor.«
»Die Kollegen in Helsinki sagen, dass es sich um genetische Informationen handelt. Die Buchstaben sind ihrer Meinung nach Abkürzungen der vier wichtigen Basen, aus denen sich jede genetische Information zusammensetzt. Was du mit Balkencode meinst, könnten die dunklen Streifen auf einem Chromosom sein. Eine Art genetische Karte.«
»Aber warum hat man sie so gut versteckt? Genetische Karten sind doch nichts Verbotenes!«
»Wer weiß. Spezielle genetische Informationen können unter Umständen sehr viel Geld bewegen und viel Macht bedeuten. Erpressung ist genauso drin wie die Illusion, perfekte Menschen zu konstruieren. Du bist doch heute bei Falsini. Er müsste kompetent sein in diesen Dingen. Zeig ihm den Streifen. Frag ihn, was es damit auf sich hat. Ich bin gespannt auf seine Reaktion.«
Am Nachmittag erschien ich zur vereinbarten Zeit in Falsinis Büro. Wir saßen uns in einem kleinen, lichtdurchfluteten Raum gegenüber. Das Mobiliar war sehr elegant, bestes italienisches Design. An der Wand hing ein einziges Bild. Ein gerahmter Druck, der den berühmtesten Ausschnitt aus dem Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle zeigte: die sich fast berührenden Fingerspitzen von Gottvater und Adam.
Falsini wirkte aufgeräumt. Die Selbstsicherheit dieses Mannes irritierte mich. Seine hellgrauen Augen wirkten unbestechlich. Er folgte meinem Blick. »Adam ist der Mensch schlechthin. Aber er ist speziell auch der Sohn. Gott hat ihn geschaffen. Aus einem Klumpen Lehm. Jesus ist Adam. Der christlichen Botschaft nach erhält Adam von seinem Vater Seele und Geist durch jenen deutenden Finger wie durch eine Injektionsnadel. Michelangelo hat diesen denkwürdigen Moment genial umgesetzt. Wenn Sie sich Zeit nehmen und sich in die Darstellung vertiefen, ich meine in das Original, was Ihnen nur gelingt, wenn Sie sich auf den Boden legen und so vermeiden, Nackenstarre zu bekommen, dann werden Sie irgendwann merken, dass diese Deutung dennoch oberflächlich ist. Zwischen beiden funkt es nämlich wechselseitig. Gott und Adam, das sind zwei Männer, die sich begehren. Sie sehen den Funken förmlich springen wie zwischen den beiden Konduktoren einer Elektrisiermaschine.«
»Ich möchte, dass er ewig lebt, und ich wünsche mir,
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