Rom kann sehr heiss sein
schenkte behutsam ein. Dann hielt er sein Glas gegen das Licht. »Sehen Sie, eine Farbe wie Blut kurz vor der Gerinnung. Wissen Sie, Doktor, was ich Ihnen vorhin zu sagen versuchte, ließe sich auch kulturhistorisch formulieren. Ich glaube, wir brauchen ein neues Menschenbild. Ein viertes sozusagen. Bislang haben wir deren drei. Den Menschen vor der Renaissance, noch tief befangen im magischen Denken, in Gesellschaftsformen der Gnosis mit ihrer naiven Hierarchie einer sozialen Pyramide mit dem Kaiser an der Spitze und den Sklaven und Tagelöhnern an der Basis. Dann den Menschen nach der Renaissance. Seine erste Wiedergeburt. Die Trennung von Mystik und Wissenschaft, von Astrologie und Astronomie zum Beispiel. Die Entstehung des modernen Ichs mit seiner weltlichen Neugier, wie es Leonardo so vollkommen verkörpert. Allerdings politisch immer noch gnostisch geprägt, immer noch streng hierarchisch gegliedert, immer noch Kaiser und Papst an der Spitze. Und dann eine erneute Zäsur: die Aufklärung. Eine gesellschaftliche Revolution, die in die industrielle übergeht. Die großen drei Ideen, Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit, die modernen Naturwissenschaften und die sie begleitenden Technologien, die Demokratie. Doch zugleich immer noch die alten, um nicht zu sagen mittelalterlichen, Reste magischen Denkens, wie es sich in Vorurteilen, Rassismus, Nationalismus und Fundamentalismus ausdrückt. Ideal und Wirklichkeit klaffen auseinander wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte, und aus dieser Spannung entstehen entsetzliche Verwerfungen, Kriege, Revolutionen, Massenvernichtung, Überbevölkerung. Diese dritte und vielleicht schlimmste Phase geht jetzt im Zeitalter der neuen Informationstechnologien, der Computer, der Globalisierung ihrem Ende zu. Der Mensch ist nicht in der Lage, seine immer noch mittelalterliche Mentalität und die Technologien, über die er jetzt verfügt, in Einklang miteinander zu bringen. Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen Katastrophe. Der Klimawandel ist nur ein Vorgeschmack. Was wir dringend brauchen, ist eine neue Wiedergeburt, eine Verknüpfung von Renaissance und Aufklärung. Von Ersterer brauchen wir die Fantasie, die Schöpferkraft, von Letzterer die Vernunft, die Tabulosigkeit, die Idee der Freiheit. Also die völlige Verschmelzung von Imaginatio und Ratio. Nur wenn uns dies gelingt, werden wir in der Lage sein, die Kinderkrankheiten der Menschheit, die Kriege, die Vorurteile, den Rassismus, den Nord-Süd-Konflikt, die Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich zu überwinden. Ein neues Paradies auf Erden, Doktor Hieronymus, mit einem neuen Adam und einer neuen Eva, das ist der mündige Mensch, wie ihn Ihr Landsmann Agricola in seinen Schriften als Erster beschworen hat und wodurch er zum Gründer des Humanismus wurde. Diese Menschen lassen sich nicht mehr aus dem Paradies vertreiben, sie empfinden es nicht als Schuld, vom Baum der Erkenntnis genascht zu haben. Denn Erkenntnis ist die höchste Tugend, und der Gott der Bibel hat zu Recht gefürchtet, dass ihm die Schöpfung aus den Händen gleite, wenn die Menschen an ihr teilhaben würden. Ich jedenfalls werde meinen Beitrag dazu leisten. Selbst wenn der Weg dahin mühevoll und nicht ohne einigen Schrecken zu bewältigen ist. Selbst die Kirche wird diesen Weg mitgehen, wie mir Tanner, der meine Meinung teilt, prophezeit. So, Doktor Hieronymus, verzeihen Sie mir meine Geschwätzigkeit. Sie dient einem guten Zweck: Dieser Wein muss atmen. Ich glaube, jetzt hat er genügend Luft gehabt. Kosten wir ihn.«
Wir stießen an. Ich spürte, wie ernst es diesem Mann war mit dem, was er sagte. Der Wein war so intensiv, so voller Geschmack, so voller Nuancen unterschiedlichster Gewürze, dass ich die Augen schließen musste, um dieser Zungenmusik besser lauschen zu können. Irgendwo hörte ich ein Geräusch, dumpf, und dennoch fuhr es mir durch Mark und Bein. Schrie da nicht ein gequältes Wesen? Falsini beobachtete mich aufmerksam. »Mit dem Wein und dem Sauerstoff ist es so wie mit dem menschlichen Verstand und dem Pneuma, dem Geist, der seinem Verstand die Fülle gibt. Ein Phänomen der Oxydation. Zu wenig davon ist genauso schädlich wie zu viel davon.« Er schien es plötzlich eilig zu haben, korkte die Flasche zu. »Und die Destille?«, sagte ich. »Mich würde sehr interessieren, wie es möglich ist, Wein in Schnaps zu verwandeln, ohne dass Qualität verloren geht.«
»Ein andermal, Doktor Hieronymus. Ich denke, ich habe Ihre Zeit schon
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